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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Staatsromane (volkswirtschaftliche)

sachlichen Zusammenhängen, welche im allgemeinen den Gegenstand der Staatswissenschaften bilden. Diese S. bilden nur eine, allerdings die weitaus wichtigste Art einer größern Gruppe, der sogen. Wissenschaftsromane, d. h. jener, welche ihre Phantasievorstellungen auf Gebiete beziehen, die von der wissenschaftlichen Forschung bebaut werden. Es ist häufig schwierig, die phantastischen Darstellungen nach den einzelnen Wissenschaftsgebieten zu scheiden, da sie sich meist auf mehreren derselben bewegen, wobei sie vornehmlich den Charakter von Staatsromanen tragen. Deshalb kann eine Einteilung dieser Wissenschaftsromane überhaupt nur die Bedeutung haben, zu konstatieren, welches Wissensgebiet am hervorstechendsten zur phantastischen Bearbeitung gelangt. Die wichtigste Art derselben, die S., zerfallen in die volkswirtschaftlichen und in die politischen, wobei aber auch hier zu bemerken ist, daß diese beiden durchaus nicht scharf voneinander geschieden sind. Innerhalb der S. und der Wissenschaftsromane überhaupt sind die volkswirtschaftlichen Romane die weitaus wichtigsten. Alle Wissenschafts- und damit auch die Staats- und speziell die Volkswirtschaftsromane entnehmen ihren wissenschaftlichen Gehalt aus den Lehren des betreffenden Wissensgebietes, dem sie nahe verwandt sind. Entweder beschränken sie sich dabei auf die Voraussetzung der Erfüllung gewisser Forderungen, indem sie Mißstände als abgestellt, technische Fragen als gelöst etc. betrachten, oder sie fußen auf einzelnen Hypothesen, welche die zeitgenössische Wissenschaft kennt, indem sie dieselben als endgültige Lösungen der Probleme ansehen, oder endlich sie stützen sich auf große, auf Hypothesen aufgebaute Zukunftssysteme, wie z. B. auf den Kommunismus oder Sozialismus. Dabei ist häufig die intimste Kenntnis der speziellen Wissenschaften in ihren fortgeschrittensten Stadien, aller der akutesten Fragen und neuesten Hypothesen und häufig eine geradezu geniale Veranlagung erforderlich, während anderseits der Schritt zum Läppischen und Kindischen oft nur gering ist und die Litteraturrichtung in vielen Fällen geradezu in Spielereien ausartet. In ihrer äußern Anlage zeigen die meisten dieser Wissenschafts- und speziell die S. eine große Übereinstimmung. Da sie einerseits auf wissenschaftlichem Boden fußen, anderseits aber auf dieser Grundlage Phantasiegebilde enthalten, so sehen sie sich genötigt, den Schauplatz der Begebenheiten so zu wählen, daß er mit der Wirklichkeit nicht in Widerspruch gerät. In frühern Jahrhunderten, als noch weit größere Flächen der bewohnten Welt unerforscht waren, wurde die Handlung zumeist in unbekannte Gegenden, meist Amerikas und Australiens, verlegt und entweder eine Reise des Helden nach jenen Orten angenommen, nach welchen er natürlich nur auf zufälligem Wege (Schiffbruch, Sturmwind etc.) gelangen konnte, oder es wurde ein Ankömmling aus jenen geheimnisvollen Gegenden erzählend eingeführt. Daneben blieb noch, und dies ist um so mehr der Fall, je mehr die Verhältnisse der bewohnten Welt allerorten aufgeklärt werden, der Ausweg, den Schauplatz in die ferne Zukunft zu verlegen, wobei die Verbindung mit der Gegenwart häufig durch einen tiefen, langen Schlaf hergestellt wird, in welchen der Romanheld verfällt, um unter den völlig geänderten Verhältnissen zu erwachen. Alle diese Romanbehelfe sind durchaus nicht etwas dieser Romangattung Eigentümliches; es ist vielmehr die Benutzung und Verwertung des Abenteuerlichen und Grotesken von jeher beliebt gewesen, sei es als Schilderung, oder als Zerrbild wirklicher Verhältnisse und damit als Satire, oder endlich als einfacher Romanbehelf. Das gilt nicht nur für die frühern Jahrhunderte der sogen. Neuzeit, als sich die Entdeckungen vorwiegend zur See häuften, sondern auch bis in unsre Zeit hinein, da mit dem Moment der Reisen und namentlich der Seereisen stets etwas Überraschungsvolles und Abenteuerliches verbunden ist. Die Phantasien dieser Wissenschaftsromane finden ihre Grenze dort, wo sie in das »Märchen« übergehen, d. h. wo der Boden glaublicher Kausalzusammenhänge, der eben in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Kerne dieser Romane immer noch gegeben sein muß, verlassen und das Gebiet des Unglaublichen oder Unmöglichen betreten wird. Nur ist da sofort zu bemerken, daß manche der hierher gehörigen S., besonders jene der frühern Zeit, märchenhafte Elemente enthalten, da eine feste Abgrenzung dieses Gebietes eben nicht besteht.

Was das groteske und abenteuerliche Moment in der Litteratur sonst anbelangt, genügt es, auf einzelne hervorstechendere Erscheinungen hinzuweisen. So beschreibt z. B. Rabelais in seinem »Gargantua«, Kap. 52-57 eine phantastische Abtei Thelema und benutzt auch sonst oft das Moment des Grotesken. »Gullivers Reisen« sind weltbekannt geworden, und für Voltaires kleinere satirische Erzählungen ist ein ähnliches Gewand geradezu charakteristisch. Endlich mögen auch die massenhaften für die Jugend und die niedern Volksschichten geschriebenen Erzählungen nicht unerwähnt bleiben, welche von Abenteuern zur See und unter fremden Völkern handeln, die zahlreichen Robinsonaden etc.

Ein Zug liegt zumeist in den S., der sie dem Leser immer wieder beliebt macht, und dem sie den größern Teil des Zaubers und der Anziehungskraft verdanken, die ihnen so häufig innewohnt. Dies ist der Gedanke, daß es einst ein glückliches goldenes Zeitalter gegeben habe, oder heute noch Völker gebe, welche sich in diesem für uns so lange verstrichenen Zustande befinden, und daß der Schauplatz der Handlung gerade in solche Zeiten oder Verhältnisse verlegt wird. Damit ist häufig auch ein mystischer Zug verbunden sowie ein Zurückgehen in sagenhafte Epochen der Entwickelung und in Zeiten einer Naturreligion. All diese Umstände im Vereine bewirken, daß ein anziehend und fesselnd geschriebener, zu gewissen Zeiten tiefen sozialen Verfalles unter die Volksmassen gebrachter Staatsroman nicht nur ungemeine Verbreitung finden, sondern auch als wichtiges Agitationsmittel dienen kann.

Der Wert der Wissenschafts- und damit auch der S. kann in Verschiedenem liegen. Sie können gegeradezu^[korrekt: geradezu] Wert für den bestimmten Wissenszweig besitzen, wenn sie z. B. konsequente Ausgestaltungen einzelner Hypothesen oder ganzer Wissenssysteme enthalten, wie dies gerade bei den sozialistischen und kommunistischen Phantasmagorien häufig der Fall ist. Jedenfalls aber können sie ungemein viel zur Popularisierung einzelner wissenschaftlicher Lehren und ganzer Wissensgebiete, so z. B. der Nationalökonomie, beitragen, insbesondere dann, wenn die Fabel des Romanes geschickt erfunden und der wissenschaftliche Kern anziehend entwickelt ist.

1. Die volkswirtschaftlichen Romane.

Die volkswirtschaftlichen Romane treten, wenn wir von Platons beiden hierher gehörigen Schriften: »Die Gesetze« und »Der Staat«, absehen, in die Litteratur mit Beginn des 16. Jahrh. ein und erhalten sich in derselben bis in unsre Zeit, in welcher sie wieder