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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Aristotelische Philosophie

sage abgeleitet und weit entfernt von einer aus der Tiefe gegriffenen Theorie der Konstitution des Gegenstandes in der Erkenntnis, wie Kants Kategoriensystem sie jedenfalls anstrebt. Besser begründet ist die Aristotelische Theorie des Beweisverfahrens, die wesentlich dem Verfahren der Euklidischen Geometrie abgelauscht ist; doch empfindet man seit lange ihre völlige Unbrauchbarkeit zu einem wirklichen Erkenntnisfortschritt; sie erscheint mehr bestimmt und geeignet, der Erkenntnis, die man schon hat, eine lehrhafte Form zu geben, als den Weg zu irgend einer neuen Erkenntnis zu weisen. Die Theorie der Induktion ist höchst unentwickelt, vom Experiment hat Aristoteles kaum einen Begriff.

Seine Metaphysik (Fundamentalphilosophie) geht aus von einer ziemlich ungerechten Beurteilung der Platonischen Ideenleere, der gegenüber er das Verhältnis des Einzelnen und Allgemeinen richtiger zu bestimmen glaubt, während er wirklich in dieser allerfundamentalsten Frage sich in einem offenbaren Widerspruch bewegt. Einerseits sollen die Einzeldinge die wahren "Substanzen", die erstgegebenen Dinge und natürlichen Subjekte jeder Aussage sein; andererseits aber alle wahre Erkenntnis doch auf dem Allgemeinen beruhen. Die richtige Bemerkung, daß das Allgemeine nur im Einzelnen seine Existenz hat (nur das Allgemeine des Einzelnen ist), löst den Widerspruch nicht, da andererseits auch das Einzelne nur durch allgemeine Bestimmungen für uns erkennbar, nur das Einzelne des Allgemeinen ist. Auch kommt Aristoteles wesentlich doch auf einen ähnlichen Weg wie Plato zurück, indem er die "Form", die in vielen Beziehungen der Platonischen "Idee" entspricht und eigentlich der Aristotelische Ausdruck des Gesetzes ist, zum letzten Princip aller Erklärung erhebt. Dabei überwindet er die im Platonismus angelegte Teleologie nicht, sondern erhebt sie, in viel bedenklicherer Form als jener, zum Princip. Die Form bedeutet das, was ein Ding seinem "Wesen" nach ist, aber sie bedeutet zugleich den Zweck und die bewegende Ursache, das, wozu es sich gestalten soll und was es zugleich (als wirkender Zweck) dazu gestaltet. Ihre Ergänzung ist der Stoff, der die "Möglichkeit" ebendessen ausdrückt, was in der "Verwirklichung" die Form ist. In jedem, was zu irgend etwas werden soll, ist also schon die Möglichkeit ("Potenz"), ebendies zu werden, voraus gegeben, und das Werden ist dann nur die Entfaltung von der Potenz zur Aktualität (Verwirklichung des voraus bloß Möglichen, Energeia oder Entelecheia). Die Form ist somit dem Stoff immanent. Damit ist die Teleologie, in noch ganz anderm Maße als bei Plato, zum Princip gemacht. Andererseits ist auch die Immanenz nicht streng durchgeführt, da schließlich doch eine Form ohne Stoff, eine reine Energie behauptet wird. So gelangt Aristoteles, trotz der ursprünglich immanenten Anlage seines Systems, zu einem transcendenten Gott, denn die stofflose Form soll zugleich eins sein mit dem sich selbst denkenden Geist, für welchen Denken und Gedachtes völlig Eins ist; ein Begriff, der eigentlich überschwenglicher ist als alles, was Plato in seiner Ideenwelt sich geträumt haben mag.

Die Physik des Aristoteles beruht nun ganz auf jenen Grundbegriffen von Form und Stoff, Möglichkeit und Verwirklichung, durch die er das Problem des Werdens, das die ältere griech. Philosophie so tief bewegte, zu überwinden glaubt. Seine "Materie" ist eigentlich nur ein anderer Ausdruck der Potenz, welche die Formbestimmung dem Keime nach in sich trägt. So hat es Aristoteles leicht, alle Veränderungen aus dem Wesen des sich Verändernden herzuleiten. Diese Auffassung führt zu merkwürdigen Konsequenzen. Naturwesen sind Dinge, die das Princip ihrer Bewegung in sich haben; das Muster eines solchen ist der organisierte, kraft seiner Organisation die Möglichkeit und Zweckbestimmung zu mancherlei Bewegungen und Veränderungen von Haus aus in sich tragende Körper. Nach gleicher Analogie baut Aristoteles aber auch die ganze unorganische Natur auf. Nicht bloß daß die qualitative Veränderung gleichwertig neben der Ortsveränderung steht, daß z. B. die Verdichtung und Verdünnung, die der Atomismus bereits überwand, restituiert wird; daß er die tief wissenschaftlichen Probleme der Unendlichkeit und Stetigkeit durch sein Universalmittel, die Unterscheidung von "Möglichkeit" und "Verwirklichung", sich aus dem Wege räumt und mit dem Atom und dem Leeren ebenso leicht fertig wird; schlimmer ist seine Unterscheidung der Urkörper nach einer rohen Einteilung der möglichen Bewegungen, indem jeder ursprünglichen Bewegung ein ursprünglicher Körper zugeteilt wird. Der einfachen Bewegungen sind drei, die kreisförmig in sich selbst zurücklaufende, welche die absolut vollkommene, weil gegensatzlose ist, außerdem die Bewegung ins Centrum und vom Centrum. Jene kommt den "schweren", diese den "leichten" Körpern zu, welche, so wie diese Bewegungen einander entgegengesetzt sind, auch unter sich von entgegengesetzter Beschaffenheit sein müssen. Der absolut schwere Körper ist die Erde, der absolut leichte das Feuer, zwischen beide schiebt Aristoteles, Empedokles folgend, noch zwei mittlere, Wasser und Luft, ein; zu diesen vier elementaren oder sublunaren Stoffen kommt als fünfter, reinster, der Stoff der Gestirnwelt, Äther benannt, dem die Kreisbewegung zufällt. Mit dieser Einteilung der ursprünglichen Körper und Bewegungen hängt auch das Weltsystem des Aristoteles zusammen, welches auf Grund derselben bis auf Kopernikus für a priori bewiesen galt. Das Centrum nimmt natürlich die Erde ein, ihre Höhlungen füllt das Wasser, darum lagert sich die Luft und ferner ein Feuerkreis, die zusammen die Atmosphäre bilden, der Himmel umfaßt das Ganze und dreht sich täglich um die Erde von Ost nach West. Die Aristotelische Theorie der Sphären ist verwandt der des Eudoxus (s. d.), doch komplizierter, eine Zwischenstufe zwischen dieser und der Ptolemäischen. Das sublunare Gebiet ist die Region der Unvollkommenheit, droben herrscht absolute Vollkommenheit. Die Gestirne sind beseelt und Götter. Das Weltall ist eine geschlossene Kugel, Aristoteles ist Gegner aller Unendlichkeiten. Die Bewegung des Himmels hängt in letzter Linie ab von dem transcendenten "unbewegten Beweger", Gott.

Die Aristotelische Psychologie ist eigentlich eine allgemeine Biologie, denn sie handelt nicht von den Bewußtseinsfunktionen allein, sondern von den Lebensfunktionen überhaupt. Seele bedeutet eigentlich die wirkliche Lebendigkeit des kraft seiner Organisation lebensfähigen Körpers. Seele und Leib sind eins wie Form und Stoss, wie das Auge und die Sehkraft. Natürlich ist die Seele wie die Form und bewegende Kraft so der Zweck des leiblichen Organismus; die Zweckvorstellung wird von Aristoteles auf dem organischen Gebiet, wo sie ja ihre sehr verständliche Bedeutung hat, am strengsten durchgeführt. Die or-^[folgende Seite]