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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Christentum

ersten fünf Jahrhunderten unter dem mitbestimmenden Einflusse der griech. Philosophie diejenige dogmatische Form des C. heraus, die noch heute der orthodoxen Lehre aller christl. Hauptkonfessionen zu Grunde liegt. Hiernach ist es die durch die Gottesoffenbarung im Alten Testament vorbereitete, von den Propheten geweissagte, von den Aposteln gepredigte Botschaft, daß Jesus Christus des ewigen Vaters ewiger Sohn, wahrhaftiger Gott und seit seiner irdischen Geburt auch wahrhaftiger Mensch, vom Himmel auf die Erde herabgestiegen, um durch sein Leiden und Sterben die sündige Menschheit mit dem Vater zu versöhnen, nach vollbrachtem Werk aber von den Toten wieder auferstanden und leiblich gen Himmel gefahren ist, um von dort aus zur Rechten des Vaters seine Gläubigen und die ganze Welt zu regieren. Die Reformation hat daran nichts geändert, stellt sich vielmehr ausdrücklich auf den Boden der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse und sucht das überlieferte Dogma sogar noch bestimmter auszubilden. Erst unter dem allmählich erstarkenden Einflusse einer weltlichen Bildung ist im 18. Jahrh. ein mächtiger Widerstand gegen die überlieferten Lehren erwacht. Wie das Aufklärungszeitalter überhaupt das geschichtliche C. auf eine allgemeine Vernunftreligion zurückzuführen suchte, so bekämpfte es auch die kirchlichen Vorstellungen von Christi Person, welche der Supranaturalismus (s. d.) immer schwächer verteidigte. Die neuere Philosophie seit Kant war hierauf bestrebt, den Ursprung des C. immer folgerechter auf die Gesetze aller geschichtlichen Entwicklung zurückzuführen, konnte daher auch für die Person seines Stifters keine andere als eine wahrhaft menschliche Auffassung gelten lassen. Um so eifriger hat sie dagegen sich bemüht, die allgemeinen Wahrheiten festzustellen, die dem religiösen Bewußtsein zuerst in und an der Person Jesu aufgegangen und durch ausschließliche Übertragung auf diese Person dem christl. Glauben zuerst anschaulich geworden seien. Am geistvollsten hat dies die Hegelsche Schule ausgeführt, indem sie die Lehren von der Dreieinigkeit, der Menschwerdung Gottes, von der Erniedrigung und der Erhöhung des Gottmenschen, seinem Tode und seiner Auferstehung, von dem durch ihn vollbrachten Versöhnungswerke als tiefsinnige Symbole des ewigen Verhältnisses Gottes zu den Menschen, seiner Selbstoffenbarung im Menschengeiste und der Erhebung des Menschen zur bewußten Einheit mit seinem ewigen göttlichen Wesen erkannte.

Je mehr aber durch die spekulative Idealisierung des Dogmas nicht nur dieses selbst in seinem ursprünglichen Sinne verändert, sondern auch die geschichtliche Bedeutung des C. und seines Stifters verflüchtigt wurde, desto mehr regte sich das Bedürfnis, das C. auch in seinem ursprünglichen geschichtlichen Wesen, nicht nur in seinem bleibenden religiösen Gehalte wiederzuerkennen. Seit Schleiermacher das Wesen des C. nicht als Lehre, sondern als ein neues göttliches Leben, Jesu Person als den urbildlichen Träger und Begründer dieses Lebens betrachten gelehrt hatte, hat die neuere Theologie immer angestrengtere Versuche gemacht, die eigentümliche Bedeutung von Jesu Person nicht sowohl in irgend welchen dogmatischen oder spekulativen Theorien über ihn, als vielmehr in der Einzigartigkeit seiner sittlich-religiösen Persönlichkeit und des Verhältnisses derselben zu Gott zu erkennen. Sie erblickt daher in der Person Jesu Christi ebensowohl den persönlichen Träger der göttlichen Offenbarung an die Menschen, wie die thatsächliche Verkörperung und lebenskräftige Verwirklichung des vollkommenen religiösen Verhältnisses der Menschen zu Gott. Als eigentümlichen Gehalt dieses religiösen Verhältnisses aber betrachtet sie das in der Person Jesu Christi verkörperte Bewußtsein der Sohnschaft bei Gott. So ist es ihr möglich geworden, der Forderung echt geschichtlichen, also menschlich wahren Verständnisses des C. und der Person Jesu Christi gerecht zu werden, ohne doch das eigentümlich christl. Bewußtsein selbst zu verleugnen. Wie sie aber der metaphysischen Betrachtungsweise gegenüber die geschichtliche geltend machte, so suchte sie auch den kirchlich-dogmatischen Begriff des C. durch den sittlich-religiösen zu ersetzen und in ihm die denkbar höchste Form des religiös-sittlichen Lebens der Menschheit nachzuweisen. Wenn dieser Auffassung des C. gegenüber der kirchlich-dogmatische Begriff sich wieder mit erneuter Entschiedenheit geltend macht, so sieht sich die wissenschaftliche Theologie nur immer nachdrücklicher zur rein geschichtlichen Erforschung des ursprünglichen C. genötigt, da diese allein eine zuverlässige Grundlage auch für die theol. Würdigung des bleibenden Gehalts der christl. Religion zu bieten vermag. Hieraus erklärt sich die hohe Bedeutung der in neuerer Zeit so gründlich und scharfsinnig geführten histor.-kritischen Untersuchungen über das Urchristentum und das geschichtliche Lebensbild Jesu Christi. Unzweifelhaft ist, daß sich dadurch das ursprüngliche Wesen des C. ungleich reiner und treuer erkennen läßt, als dies noch zur Zeit des ältern Rationalismus möglich war. Die darauf gerichtete Forschung hat schon jetzt dazu geführt, den eigentlichen Lebensmittelpunkt der christl. Religion immer entschiedener in der Persönlichkeit Jesu selbst oder in dem in ihm offenbarten gotteinigen Leben zu erkennen. (S. Jesus.)

Auf Grund ihrer Forschungen kann die heutige Wissenschaft das geschichtliche Wesen des C. nicht in einer dogmatischen Lehre über seine Entstehung, auch nicht in einem bestimmten Dogma über Christi Person und Werk, sondern nur in dem wesentlich neuen religiösen Verhältnisse der Menschheit zu Gott finden, das von Jesus als Ausdruck des göttlichen Liebewillens offenbart und in seiner Person grundlegend verwirklicht worden ist. Dieses eigentümliche Wesen des C. ist zusammengefaßt in dem Begriffe der vollkommenen Erlösungs- oder Versöhnungsreligion. Der alttestamentliche Gottesbegriff ist zu der Idee des "himmlischen Vaters" gesteigert, die jüd. Äußerlichkeit des Verhältnisses Gottes zur Welt ebenso wie die pantheistische Verendlichung Gottes im Heidentume überwunden, da Gott aufgefaßt wird als die allumfassende Liebe oder als der schlechthin vollkommene, von der Welt und Menschheit schlechthin unterschiedene, aber zugleich ihr allgegenwärtig innewohnende, im sittlich-religiösen Bewußtsein und Leben des Menschen sich unmittelbar offenbarende und zu seiner Gemeinschaft, dem höchsten Heile, heranziehende Geist. Da dies Verhältnis ein rein ethisches ist, das alle Unterschiede der Abstammung und der Geburt ausschließt, so kann es auch durch kein äußeres Verdienst oder Werk zu stande kommen, sondern nur dadurch, daß sich der Mensch empfänglich verhält zu der in Christus offenbarten göttlichen Liebe, in selbstverleugnender Entäußerung alles eigenen Willens vertrauensvoll der göttlichen Führung sich hingiebt und, durch die inner-^[folgende Seite]