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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Christentumsgesellschaft; Christenverfolgungen

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Christentumsgesellschaft - Christenverfolgungen

lich erfahrene göttliche Liebe zu freier Gegenliebe getrieben, in der sittlichen Gemeinschaft, in der er steht, den ewigen Liebeszweck Gottes zu verwirklichen trachtet, also auch in allen seinen besondern sittlichen Pflichten ebenso viele Aufgaben des höchsten Willens an ihn sieht. Die unerläßliche Bedingung aber für den Eintritt in die neue Gottesgemeinschaft oder ins "Gottesreich" ist die Demut, als das tiefste Gefühl der eigenen sittlichen Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit, das sich im Bewußtsein persönlicher sittlicher Verschuldung zur Ruhe oder zu dem reumütigen Eingeständnisse der eigenen Sünde gestaltet. Nicht als die, wenn auch noch so vollkommene Lehre von dem wahren religiösen Verhältnisse des Menschen zu Gott, sondern als geschichtliche Offenbarung einer neuen göttlichen Lebensmacht, als ein sittlich erneuendes und befreiendes Lebensprincip, welches von innen heraus alle sittlichen Lebensverhältnisse umgestaltete, ist das C. in die Welt getreten. Durch diesen rein sittlichen Charakter ist zugleich der universelle Charakter der christl. Religion als einer für alle Menschen und alle Völker bestimmten bezeichnet, welche allen menschlichen Lebenslagen und Lebensbedürfnissen gleicherweise entspricht und darum auch geeignet ist, die bleibende Grundlage und das zureichende Princip alles sittlichen Strebens und Arbeitens in der Gemeinschaft zu bilden.

Von einer Stiftung der christl. "Kirche" durch Jesus kann aber nur sehr bedingterweise gesprochen werden. Das, was er als nahe herbeigekommen verkündigte, war vielmehr das "Reich Gottes" (s. d.) oder das "Himmelreich". Es konnte aber die Idee dieses Gottesreichs zunächst nur in Form einer besondern Religionsgemeinschaft verwirklicht werden, und es war nur die innere Notwendigkeit der Sache selbst, daß die ersten Christen zur lebendigen Vertiefung in die höchste religiöse Idee sich von aller Zerstreuung durch die "Welthändel" und weltlichen Beschäftigungen zurückziehen mußten. Darum ist die "Weltflucht" allerdings die Signatur des geschichtlichen C. in seiner ältesten Gestalt. Aber wie schon Jesus selbst in den großen Gleichnisreden über das göttliche Reich deutlich eine weit umfassendere Aufgabe gezeichnet hatte, so war es eben die Allgemeingültigkeit des christl. Princips selbst, die es immer mehr dazu drängen mußte, aus der Stille des Privatlebens und der engsten Kreise frommer Gemeinschaft herauszutreten und alle menschlichen Lebensverhältnisse mit dem neuen Geiste zu durchdringen. Schon nach drei Jahrhunderten begann das C. seine civilisatorische Aufgabe in der Welt zu erfüllen. Es ist eine Thatsache, die kein Historiker verkennen kann, daß die geistige und sittliche Umgestaltung des Völkerlebens im Gefolge des Evangeliums Jesu Christi einhergeschritten ist, und daß noch heute die christl. Welt und Menschheit die Wiege aller durch wissenschaftliche und humanitäre Kultur bedingten Fortschritte in Kunst und Wissenschaft, im bürgerlichen, polit. und häuslichen Leben ist. Es war geschichtlich begründet, daß das C. diese seine welterneuernde Mission zunächst nur in kirchlich-dogmatischer Fassung übte; für die heutige Menschheit ist es notwendig, Kirche und C. sorgfältig zu scheiden, und jene nur als die allerdings unentbehrliche Pflanzstätte des specifisch religiösen Lebens zu betrachten, das als das lebendige Princip in alle sittlichen Lebensverhältnisse überzugehen die Bestimmung hat, doch ohne daß diese darum selbst

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in kirchliche Formen gegossen würden. Die Zeit einer kirchlichen Universalmonarchie als alleiniger Trägerin des christl. Geistes ist vorüber, ebenso die Zeit eines dogmatisch beengten Lehrkirchentums oder einer exklusiv religiösen, die ganze Fülle sittlicher Lebensgebiete und Kulturinteressen als profane, unheilige Welt von sich ausstoßenden Praxis. Die hierarchisch gegliederte Theokratie des mittelalterlichen Katholicismus, der luth. Dogmatismus und der pietistische Prakticismus haben ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt, und derselbe christl. Geist, der sich jene Formen schuf, sucht sich heute in der ganzen Breite des sittlichen Menschen- und Völkerlebene eine neue Stätte seiner welterneuernden und weltversöhnenden Wirksamkeit. Die Gesamtzahl der Bekenner des C. beträgt etwa 495 Millionen.

Litteratur: Châteaubriand, Le génie du Christianisme (5 Bde., Par. 1802 u. ö.; deutsch von Schneller, 2. Aufl., 2 Bde., Freib. i. Br. 1856-57); Ludw. Andr. Feuerbach, Das Wesen des C. (Lpz. 1841); Ullmann, Das Wesen des C. (Hamb. 1845; 5. Aufl., 2. Bd. der Werke, Gotha 1865); Bruch, Das Wesen des C. (in Schenkels "Allgemeiner kirchlichen Zeitschrift", 1867); Kaftan, Das Wesen der christl. Religion (2. Aufl., Basel 1888); Bender, Das Wesen der Religion (4. Aufl., Bonn 1888); Dreyer, Undogmatisches C. (2. Aufl., Braunschw. 1888); Lipsius, Die Hauptpunkte der christl. Glaubenslehre (2. Aufl., ebd. 1891).

Christentumsgesellschaft, eigentlich Deutsche Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit genannt, von dem 1806 in Augsburg verstorbenen evang. Senior Joh. Urlsperger zu Basel 1780 gestiftet, war eine weitverbreitete Verbindung bibelgläubiger Christen gegen den Zeitgeist der Aufklärung. Durch die Monatsschrift "Sammlungen für Liebhaber christl. Wahrheit" erhielt sie ihre zerstreuten Mitglieder im Verkehr und veranstaltete an den einzelnen Orten erbauliche Zusammenkünfte ihrer Mitglieder, ließ sich auch die Verbreitung alter und neuer Schriften wider den Unglauben angelegen sein. Spittler (gest. 1867 in Basel) leitete seit Anfang des 19. Jahrh. die Gesellschaft und gab den Anstoß zu einer Reihe selbständiger Unternehmungen, in denen die C. allmählich aufging, wie die Baseler Bibelgesellschaft (1804), die Baseler Heidenmission (1816) und der Verein der Freunde Israels (1826), der Traktatverein, die Rettungsanstalt zu Beuggen u. s. w.

Christenverfolgungen. C. haben namentlich in den drei ersten Jahrhunderten des Bestehens der christl. Kirche stattgefunden. Schon als nach der Kreuzigung Jesu sich die Gläubigen allmählich wieder in Jerusalem gesammelt hatten, kam es hier zu vereinzelten Gewaltmaßregeln der jüd. Obrigkeit gegen die "Sekte der Nazaräer". Den ersten Anlaß scheint jedoch nicht die Predigt von dem Gekreuzigten überhaupt, sondern die Geltendmachung freierer Grundsätze über die Gesetzesbeobachtung und die Verwerfung des Tempelkultus durch griechisch gebildete Juden, wie Stephanus, geboten zu haben. Noch größern Anstoß gab dem Judentume das Evangelium des Paulus von der Abschaffung des Gesetzes im Christentum und von der Gleichberechtigung der Heiden mit den Juden. Während der Haß der Juden gegen die gesetzesfreie Heidenpredigt in immer neuen Ausbrüchen sich Luft machte, scheint das am Gesetze festhaltende Judenchristentum bis in die Zeiten des ersten jüd. Krieges Dul-

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