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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Zeitungswesen)

Schicksal ereilte nunmehr viele andere Blätter. 1819 gründete die preuß. Regierung die "Preußische Staatszeitung", seit 1843 "Allgemeine Preußische Zeitung", später "Königl. Preußischer Staats-Anzeiger" und seit 1871 "Deutscher Reichs-Anzeiger und Königl. Preußischer Staats-Anzeiger" (s. d.). Eine polit. Bedeutung hat das Blatt niemals gehabt. Am 30. Dez. 1819 verbot die preuß. Regierung alle in Frankreich, England und den Niederlanden in deutscher Sprache erscheinenden Zeitungen für das Gebiet des preuß. Staates. Für die inländische Presse wurde als oberste Censurbehörde ein Obercensurkolleginm eingesetzt und gleichzeitig alle bisher noch bestehenden Censurfreiheiten aufgehoben.

Die franz. Julirevolution von 1830 übte auch auf Deutschland ihre Wirkung und rief in schneller Folge eine ganze Reihe freisinniger Blätter, namentlich in Süddeutschland ins Leben, welche aber durch erneute Censurmaßregeln bald unterdrückt wurden. Preußen vermochte noch immer nicht, sich von dem Metternichschen System loszusagen, und folgte daher bereitwillig feinen Bundesgenossen auf dem betretenen Wege weiter, obwohl sich bereite stimmen erhoben, die der preuß. Regierung den Rat gaben, sich von dem österr. Einfluß freizumachen und ohne Scheu vor einer offenen Kritik der Tagespresse die Bahnen einzuschlagen, die ihm durch seine nationale Aufgabe in Deutschland vorgeschrieben. In diesem Sinne gründete Friedr. Perthes 1832 die von Leopold Ranke redigierte "historisch-politische Zeitschrift", die eine Reihe trefflich er Arbeiten lieferte, jedoch nach, kurzem Bestehen wieder einging. Als Gegenschrift wurde von den Vertretern der konservativen Richtung, Gerlach, Radowitz und Lancizolle, das von ^[ab hier Scan nicht lesbar] Jarcke^[Carl Ernst Jarcke] herausgegebene "Berliner polit. Wochenblatt" ins Leben gerufen, das durch Wittgenstein^[Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein] und Kamptz^[Karl Albert von Kamptz] unterstützt, sich 10 Jahre lang eines bedeutenden Einflusses erfreute. Trotz aller Beschränkungen aber hob sich in den vierziger Jahren das deutsche Zeitungswesen mit^[bis hier Scan nicht lesbar] dem zunehmenden Sinne für öffentliches Leben. Es entstand eine Menge von Blättern, die den Liberalismus in allen Abstufungen vertraten. Der äußersten Richtung gehörte die von dem Advokaten Struve geleitete "Mannheimer Abendzeitung" an, die 1846 unterdrückt und durch den "Deutschen Zuschauer", der später dasselbe Schicksal teilte, ersetzt wurde. In demselben Sinne wirkten die 1841 gegründete "Rheinische Zeitung" in Köln, die socialistischen Tendenzen huldigende "Trierer Zeitung" und die 1841 begonnenen und 1845 unterdrückten "Sächsischen Vaterlandsblätter". Einen bedeutenden Einfluß namentlich auf die gebildeten Volksmassen übten die 1838 von Arnold Ruge und Echtermeier gegründeten "Hallischen Jahrbücher" aus, die später u. d. T. "Deutsche Jahrbücher" nach Dresden übersiedeln mußten. Ein Hauptorgan des ultramontanen Katholicismus war die in Koblenz erscheinende "Rhein- und Moselzeitung", während als Vertreter des gemäßigten Liberalismus die "Weser-Zeitung" in Bremen, die "Kölnische Zeitung" und die "Leipziger AllgemeineZeitung" sich auszeichneten.

In Preußen hatte der Liberalismus an den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. sehr weitgehende Hoffnungen geknüpft, die namentlich durch den Ministerialerlaß vom 24. Dez. 1841, in welchem die Censoren angewiesen wurden, bei derHandhabung der Censur nicht allzu ängstlich zu verfahren, und durch die Kabinettsorder vom 4. Okt. 1842, welche Druckschriften über 20 Bogen von der Censur gänzlich befreite, neue Nahrung erhielten. Diese Erwartungen wurden jedoch bald enttäuscht. Das Erwachen der polit. Tagespresse und die Gründung neuer Blätter, die, wie die von Held 1842 gegründete "Lokomotive", in die Massen eindrangen und eine Kritik an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu üben begannen, erregten das Mißtrauen des Königs. Die "Leipziger Allgemeine Zeitung" wurde wegen ihres täglich steigenden Einflusses der Gegenstand zahlreicher Anfeindungen, die endlich im Anfange 1843 zu einem Verbot dieses Blattes in Preußen führten und dasselbe veranlaßten, seinen Titel in "Deutsche Allgemeine Zeitung" umzuändern. Das gleiche Schicksal erlitten die "Deutschen Jahrbücher" und die "Rheinische Zeitung". Um in beständiger Kenntnis der inländischen periodischen Litteratur zu bleiben, ordnete der Minister von Nochow mittels Cirkularverfügung an, daß sämtliche Oberpräsidenten regelmäßige Berichte über die Tagespresse in den Provinzen einreichen sollten. Gleichzeitig suchte die Regierung nach Mitteln, um die Preße gegen administrative Willkür zu schützen. Diese glaubte sie in der Organisation eines unabhängigen Obercensurgerichts zu finden, das sie durch Verordnung vom 23. Febr. 1843 ins Leben rief, ohne damit jedoch zu befriedigen.

Es bedurfte erst des Sturmes von 1848, um alle diese künstlichen Dämme wegzuschwemmen und der Tagespresse, die durch die gewaltige polit. Bewegung einen ungeahnten Aufschwung nahm, freies Licht und freie Luft zu gewähren. Die Deutschen Grundrechte vom 21. Dez. 1848 verkündeten im^[ab hier Scan nicht lesbar]Artikel 4 die Preßfreiheit. Dieselbe Bestimmung wurde in die preuß. oktroyierte Verfassung vom 5. Dez. 1848 aufgenommen und noch in demselben Jahre durch besondere Verordnungen die Konzessions-, Kautions- und Stempelpflicht der Zeitungen beseitigt. Dasselbe geschah in fast allen übrigen deutschen^[bis hier Scan nicht lesbar] Staaten. Von der so gewährten Freiheit wurde der umfassendste Gebrauch gemacht. Überall tauchten polit. Blätter und Blättchen in großer Menge auf, die freilich zum Teil ebenso schnell wieder verschwanden.

Während die Zahl der polit. Blätter 1824: 96 und 1847: 118 betragen hatte, vermehrte sich dieselbe allein in den J. 1847-50 auf 184, mithin in 3 Jahren um 66 Stück, gegen 22 Stück in den voraufgehenden 23 Jahren. 1871 war die Zahl der polit. Zeitungen auf 948 gestiegen, seitdem hat die amtliche Preisliste eine Trennung zwischen polit. und nichtpolit. Zeitungen fallen lassen, sodaß die Zunahme der letztern in den verflossenen 20 Jahren daraus nicht ersichtlich ist.

Unter denjenigen Blättern, die dem J. 1848 ihren Ursprung verdanken und noch heute in voller Blüte stehen, sind zu erwähnen: der "Kladderadatsch" (s. d.), der den Berliner Witz in die deutsche Litteratur einführte, zeitweilig regierungsfreundlich und lahm wurde, neuerdings aber wieder durch die Schärfe seines Witzes hervorleuchtet: ferner die "NationalZeitung" (s. d.), die demokratische, von Aaron Bernstein gegründete "Urwähler-Zeitung", die sich später in die "Volks-Zeitung" (s. d.) umwandelte, und die "Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung" (s. d.). Nach Berlin waren es namentlich Breslau, Köln, Erfurt, Halle und Königsberg, wo die radikale Presse in vollster Blüte stand. Dieselbe wurde durch die in den folgenden Jahren erlassenen Preßverordnungen