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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Disciplinargewalt
und tritt ein bei der Staatsverwaltung in dem Ver-
hältnisse des Vorgesetzten zu den Untergebenen im
Staatsdienste, bei dem Militär, bei einzelnen öffent-
lichen Instituten, bei den Unterrichtsanstalten; fer-
ner analog der Staatsverwaltung auch bei der Ge-
meindeverwaltung und hinsichtlich der geistlichen
Obern im Verhältnis zu den ihnen untergebenen
Geistlichen. Da die D. überall nur auf besondern
Verhältnissen beruht, so müssen ihre Grenzen auch
möglichst scharf und eng gezogen sein, um dem Miß-
brauch der Gewalt vorzubeugen.
Die unter die D. fallenden Verstöße werden, in-
sofern es sich uicht bloß um Maßregeln wegen schon
anderweit erfolgter Strafverhängung (z. B. um
Amtsentsetzung nach erfolgter gerichtlicher Bestra-
fung eines gemeinen Verbrechens wegen) handelt,
Disciplinarvergehen genannt und unterschei-
den sich darin von Amtsdelikten, daß letztere Ver-
letzungen der öffentlichen Rechtsordnung, erstere
dagegen Verletzungen bestimmter Dienst-, Amts-,
^tandespflichten sind; die Grenzen beider Gebiete
zieht das positive Recht. D?e Strafen, welche auf
Grund der D. festgesetzt werden, heißen Discipli-
n arstrafeu. Diese bestehen in Warnung, Verweis,
Geldstrafe bis zu einem gewisfen Betrage, in ein-
zelnen Fällen auch in Gefängnisstrafe, unfreiwilliger
Versetzung des Beamten an einen andern Ort mit
oder ohne Erstattung der dadurch entstehenden Um-
zugskosten, Amtsenthebung auf bestimmte Zeit mit
gänzlicher oder teilweiser Entziehung des Dienst-
einkommens, und in Dienstentlassung mit und ohne
Pension. Die geringern Strafen können in der
Regel von den Vorgesetzten ohne förmliches Ver-
fahren gegen den Untergebenen festgesetzt werden,
und es ist dann nur die Beschwerde bei der über-
geordneten Behörde zulässig, (nbcr die militäri-
schen Disciplinarstrafen s. unten.) Bei den
schwerern Strafen muß dagegen ein sog. Disci-
plin a r v e r f a h r e n eintreten. Dasselbe wird durch
Gesetze geregelt, welche das Nähere festsetzen über
die entscheidende Behörde, den Disciplinarhof,
und die Formen, in welchen die Thatsachen fest-
gestellt, die Verteidigung des Angeklagten entgegen-
genommen, das Urteil ausgesprochen und die et-
waige Appellation an die höhere Instanz eingelegt
wird. Am wenigsten pflegt die D. durch solche den
Untergebenen schützende Formen beim Militär ein-
geengt zu seiu, und auch die geistlichen Obern der
kath. Kirche, namentlich die Häupter der Orden und
Klöster, üben die D. fast frei aus. Dagegen können
gegen Richter, deren Unabhängigkeit die erste Be-
dingung einer guten Rechtspflege ist, selbst die
geringsten Disciplinarstrafen, wie Warnung und
Verweis, in der Regel nur durch einen förmlichen
Urteilsspruch eines höhern, mit einer größern Zahl
von Richtern besetzten Gerichtshofs erkannt werden.
Die Disciplinarhöfe der Verwaltungsbeamten pfle-
gen aus Verwaltungsbeamten zusammengesetzt zu
werden, und die zweite und letzte Instanz ist hier
oft (wie z. V. in Preußen) die höchste Verwaltungs-
behörde, das Staatsministerium. Die Anklage er-
hebt ein Negierungsanwalt, und der Angeklagte darf
sich mündlich verteidigen oder verteidigen lassen.
Eine D. besitzt auch die Behörde eines Hospitals
über die Hospitaliten, der Lehrherr gegen den Lehr-
ling, der Vorsteher einer Schule über die Schüler,
der Direktor eines Gefängnisses über die Gefange-
nen (z. B. für Preußen: Gefängnisreglement vom
10. März 1881).
Im Deutfchen Reiche ist durch das Gesetz, betref-
fend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten, vom
.".1. März 1873, welches in ߧ. 80-133 von dem
Disciplinarverfahren handelt, die D. in Bezug auf
die Reichsbeamten (im Sinne dieses Gesetzes die-
jenigen Beamten, welche entweder vom Kaiser an-
gestellt oder nach den Vorschriften der Reichsver-
fassung den Anordnungen des Kaisers Folge zu
leisten verbunden sind) geregelt. Danach besteht die
Bestrafung in Ordnungsstrafen und Entfernuug
aus dem Amte. Die Ordnungsstrafen zerfallen
wieder in Warnung, Verweis und Geldstrafen,
während die Entfernung aus dem Amte entweder
in Strafversetzung oder Dienstentlassung besteht.
Gegen die Ordnungsstrafen findet nur die Beschwerde
im gewöhnlichen Instanzenzuge statt, wogegen die
Entfernung aus dem Amte nur im Wege eines förm-
lichen Disciplinarverfahrens erfolgen kann. Dies
setzt sich zusammen aus einer schriftlichen Vorunter-
suchung und einer mündlichen Verhandlung und
gehört in erster Instanz vor die Disciplinar-
kammern, deren 28 in ebenso vielen verschiedenen
Städten des Deutschen Reichs (z. B. in Leipzig und
Magdeburg) eingesetzt sind, und in zweiter und letzter
Instanz vor den Disciplinarhof, welcher letztere
am Sitze des Reichsgerichts zusammentritt und aus
11 Mitgliedern besteht, von denen wenigstens 4 zu
den Bevollmächtigten zum Bundesrate und, ein-
schließlich des Präsidenten, 6 zu deu Mitgliedern des
Reichsgerichts gehören müssen. Die mündliche Ver-
handlung ist regelmäßig eine öffentliche. Die Mit-
glieder des Reichsgerichts sind nur in den durch das
Gesetz bestimmten Fällen der vorläufigen oder defi-
nitiven Amtsenthebung unterworfen, und diese kann
nur durch Beschluß des Plenums des Reichsgerichts
ausgesprochen werden (Gerichtsverfassungsgesetz
tzß. 128-130). Besondere Vorschriften find in den
K 120 fg. des Gesetzes vom 31. März 1873 über
das Verfahren gegen diejenigen Militärbeamten
gegeben, die ausschließlich unter Militärbefehls-
habern stehen. 'Ähnliche Bestimmungen betreffen die
D. gegen Rechtsanwälte und Notare (Rechtsanwalts-
ordnung vom 1. Juli 1878). Die Einzelstaaten haben
durchweg eine sehr umfassende Specialgesetzgebung
in betreff der D. - Vgl. Laband, Das Staats-
recht des Deutschen Reichs (2. Aufl., 2 Bde., Freib.
i. Br. 1888-90); G. Meyer, Lehrbuch des deutschen
Staatsrechts (3.Aufl., Lpz.1891); Zorn, Das Staats-
recht des Deutfchen Reichs (2 Bde., Verl. 1880-83).
Militärische Disciplinarstrafen sind nach
der Deutschen Disciplinarstrafordnung: für Offiziere
Verweis in Abstufungen und Stubenarrest bis
14 Tage; für Unteroffiziere: Verweis, die Aufer-
legung gewisser Dienstverrichtungen außer der Reihe
und Arreststrafen; für Gemeine: Strafexerzieren
u. s. w., Entziehung der freien Verfügung über die
Löhnung, Entziehung der Ausgeherlaubnis, Arrest-
strafen. Außerdem für Gefreite und Obergefreite:
Entfernung von dieser Charge, und für Gemeine:
Einstellung in eine Arbeiterabteilung (s. d.); für die
Mitglieder des Sanitätskorps nach Maßgabe ihres
Militärranges die vorstehend aufgeführten Strafen.
Die Vollstreckung der Disciplinarstrafen muß, so-
fern die Umstände es gestatten, gleich nach deren
Festsetzung erfolgen. Beschwerden über D^snMna^-
strafen dürfen von dem Bestraften erst nach Voll-
streckung derselben erhoben werden. Die Disci-
plinarstrafordnung für das Heer ist durch
Kabinetts-Order vom 31. Okt. 1872 gegeben und