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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Geistesgabe; Geisteskrankheiten

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Geistesgabe - Geisteskrankheiten

Werk über Geistererscheinungen und Hexenwesen, rühmte sich des Zweiten Gesichts und der Gabe, Geister zu sehen, die, freilich ohne körperliche Leiber, mit ihm sprachen, in seiner Gegenwart sangen, ihn schlugen und sich sogar zu ihm ins Bett legten. Daß bei ihm, wie bei andern sog. Geistersehern, Illusion und Hallucination die angeblichen Erscheinungen bewirkten, ist unzweifelhaft. Viel berühmter wurde Swedenborg (s. d.), den Kant den Erzgeisterseher unter allen Geistersehern, den Erzphantasten unter allen Phantasten nennt, über den der größte Teil seines Buches "Träume eines Geistersehers" handelt. Auch Jung-Stilling (s. d.) ist hier zu nennen. Es entstand im 18. Jahrh. eine ansehnliche Litteratur für und wider die G. So Haubers "Biibliotheca acta et scripta magica oder gründliche Nachrichten und Urteile von solchen Büchern und Handlungen, welche die Macht des Teufels in leiblichen Dingen betreffen" (3 Bde., Lemgo 1739-45); ferner Werke von Reichard, Keller, Hennings, H. L. Fischer ("Das Buch vom Aberglauben", 3 Bde., Lpz. 1791 - 94) und Münter ("Merkwürdige Visionen und Erscheinungen nach dem Tode, zur Verminderung des Aberglaubens", 3 Bde., Hannov. 1805-14).

Das 19. Jahrh. brachte zunächst kein Nachlassen des Glaubens an das "Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere", Somnambulismus und G. standen, wenn auch in etwas modifizierter Weise, in Blüte und zeitigten Justinus Kerners Seherin von Prevorst (s. d.), die eine Flut ähnlicher Schriften hervorrief. Du Potet de Sennevoy in seinem "Essai sur l'enseignement philosophique du magnétisme" (Par. 1815) behauptet, auf Beispiele von Scheintod gestützt, die Seele könne den Körper auf einige Stunden, ja Tage verlassen, die Toten können unter gewissen Umständen zurückkehren und Dinge erzählen, welche den Gelehrten unbekannt sind, ja die Zukunft enthüllen. Bekannt sind die Versuche und Verirrungen der Wundersüchtigen mit der Elektricität, das Tischrücken (table-moving), Geisterklopfen (spirits-rapping) und sonstige Geistermanifestationen des Spiritismus (s. d.). Im eigentlichen Volke geht die G. von der Vorstellung aus, daß der Tod das Leben nicht vernichtet, sondern nur verändert, daß die Seele mit ihrem Bewußtsein ewig fortlebt, aber dieses Leben nach dem Tode ist nicht ein verklärtes, sondern haftet an dem Diesseits und wird vorherrschend als eine Art Halbleben, als ein schattenhaftes, unfreundliches, für die Lebenden unheimliches angesehen. Das Wiedererscheinen Gestorbener gilt indes nicht bloß als unheimlich und störend für die Lebenden, sondern auch als Qual für den Toten, daher sucht man es auch zu verhüten. Die Geister sieht das Volk gemeiniglich nur als Gespenster, die es erschrecken, aber es hat dabei doch auch eine eigene Geisterwelt, die großenteils noch mit dem Heidentum, aber mehr mit der heidnischen poet. Naturbetrachtung, als mit der eigentlichen Religion zusammenhängt. Dahin gehören die Kobolde, Berggeister, Nixen, Elben, Mahrten und andere mythische Wesen, mit welchen die "aufgeklärte" G. nichts zu thun hat.

Geistesgabe (grch. charisma), nach 1 Kor. 12 jede besondere Begabung zu irgend einem Amt oder einer Dienstleistung in der christl. Gemeinde, z. B. Predigtgabe, Lehrgabe, Prophetengabe, Gabe der Armen- und Krankenpflege, Gabe des Regiments, aber auch Wunderkräfte aller Art, mit denen man die ersten Christen ausgestattet dachte. Alle diese Begabungen führt Paulus auf besondere Ausrüstung durch den Heiligen Geist (s. d.) zurück.

Geisteskrankheiten oder auch Psychische Krankheiten, Psychosen im weitern Sinne, vom mediz. Standpunkt aus betrachtet eine Abteilung der Gehirnkrankheiten. Sie lassen sich von der andern Abteilung der letztern, den sog. gewöhnlichen Gehirnkrankheiten (Blutungen, Abscesse, Geschwülste u. s. w.) nur teilweise scharf trennen, insofern als manche Formen von G. auf deutlich nachweisbaren, z. B. entzündlichen Affektionen des Gehirns beruhen. Die Unterscheidung ist eine mehr herkömmliche als in der Natur der Sache begründete und beruht zumeist auf praktischen Gesichtspunkten, insbesondere auf der Notwendigkeit, Geisteskranke in besondern Anstalten zu behandeln, auf rechtlichen Verhältnissen u. s. w., erst in zweiter Linie auf dem besondern Verhalten der Krankheitserscheinungen und der ihnen zu Grunde liegenden krankhaften Zustände und Vorgänge im Gehirn. Bei den G. im engern Sinne finden sich vorwiegend Störungen der psychischen Thätigkeiten (des Sich-Fühlens, Vorstellens, Strebens) und demgemäß des Handelns, während die Hauptsymptome der gewöhnlichen Gehirnerkrankungen (Lähmungen der Sinnes- und Bewegungsnerven, Krämpfe u. s. w.) dabei entweder ganz fehlen oder doch gegenüber den geistigen Anomalien praktisch in den Hintergrund treten. Doch kommen auch bei einzelnen G. Anomalien der Bewegungs- und Sinnesnerven in ausgeprägter Form als regelmäßige Begleiterscheinungen der geistigen Störungen vor (s. unten). Jede Geisteskrankheit setzt sich aus einer Anzahl einfacher Anomalien, sog. psychischen Elementarstörungen zusammen, z. B. Sinnestäuschungen (Hallucinationen, Illusionen, s. d.), Wahnvorstellungen, traurige, heitere Verstimmung, Gedächtnis-, Urteilsschwäche, Ideenflucht u. s. w., und das eigenartige, gesetzmäßige Austreten derselben in ihrem Neben- und Nacheinander, die Entwicklung derselben aus einander kennzeichnet hauptsächlich die geistige Störung bei den eigentlichen G. gegenüber jener bei den gewöhnlichen Hirnerkrankungen. Hierzu kommt bei erstem eine gewisse Selbständigkeit der geistigen Anomalien, insofern als sich oft körperliche Erkrankungen, denen man eine Beeinträchtigung der Gehirnfunktionen zuschreiben könnte, nicht ohne weiteres nachweisen lassen. Wo das Gegenteil der Fall, z. B. bei dem Irrereden und Irrehandeln von Fieberkranken, spricht man nicht von Geisteskrankheit, da hier erfahrungsgemäß die psychische Störung in der Regel mit dem Nachlaß der körperlichen Affektion zurückgeht und so nur als mehr oder weniger bedeutungsvolle Teilerscheinung der Gesamterkrankung aufzufassen ist.

Die scheinbare Intaktheit des Körpers bei zahlreichen Geisteskranken hat zu mancherlei irrtümlichen Anschauungen über die Natur des Irreseins geführt, insbesondere auch zu der, daß es sich um selbständige Erkrankungen einer immateriellen Seele handle. Indes ist dieser Schluß nicht haltbar, wie schon die zweifellos festgestellte Entstehung von G. nur infolge von schweren Kopfverletzungen, von schweren Krankheiten aller Art (Typhus, akuter Gelenkrheumatismus u. s. w.) ergiebt. Die mittels der vollkommenen modernen Hilfsmittel, z. B. mit dem Mikroskop angestellten genauern Untersuchungen an Lebenden wie an der Leiche lassen gegen-^[folgende Seite]

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