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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Geisteskrankheiten

trachtung nicht ausschließlich die Willenssphäre, da im Moment des Handelns, wie es scheint, stets die Intelligenz, die Klarheit des Bewußseins u. s. w. gestört sind und die Angabe der Kranken, daß sie sich der Strafbarkeit und Unnatürlichkeit des Triebes bewußt gewesen, sich auf die Zeit außerhalb des eigentlichen Handelns bezieht. Sämtliche geistige Funktionen sind gestört im Blödsinn, wo nicht nur Gedächtnis und Denkthätigkeit, sondern auch die gemütlichen und Willensregungen abgeschwächt sind, bez. in den schwersten Fällen scheinbar völlig fehlen.

Indem man früher annahm, daß die Verrücktheit und der Blödsinn, überhaupt aber die mit geistiger Schwäche einhergehenden Krankheitsbilder sich stets im Anschluß, bez. als Ausgänge von Gemütskrankheiten bildeten, bezeichnet man jene auch als sekundäre Störungen,Sekundärformen geistiger Krankheit, letztere als primäre Störungen, Primärformen. Indes ist diese Einteilung nur mit wesentlichen Modifikationen haltbar, insofern als die Verrücktheit (im modernen Sinne) in der Regel, der Blödsinn nicht gar selten ohne jede vorausgehende Gemütskrankheit, also primär auftreten (primäre Verrücktheit u. s. w.). Wenn Melancholie und Manie nicht in Heilung übergehen, so entstehen allerdings Zustände, die bei oberflächlicher Betrachtung der Verrücktheit ähneln (Wahnideen, defektes Bewußtsein der eigenen Person u. s. w.). Doch unterscheidet sich diese sekundäre Verrücktheit (auch Verwirrtheit genannt, von manchen auch Wahnsinn) wesentlich von der Verrücktheit (im modernen Sinne), da für letztere der systematische Zusammenhang der Wahnideen, für jene das zusammenhangslose derselben charakteristisch ist. Überdies findet sich bei "sekundär Verrückten" meist eine hochgradige gemütliche Indifferenz und Gedächtnisschwäche, sodaß der Inhalt der Wahnideen sie meist gleichgültig läßt, während gerade umgekehrt die primär Verrückten, die vielfach noch ein scharfes Gedächtnis besitzen, im Anschluß an ihre Wahnideen häufig in Affekt geraten und dadurch zu den für ihre Umgebung gefährlichsten Kranken gehören. Es ist nach dem Angeführten auch die Ansicht unhaltbar, daß Melancholie, Manie, Verrücktheit, Blödsinn allenthalben nur verschiedene Stadien ein und derselben Krankheit, der "Geisteskrankheit", darstellen. Allerdings treten vielfach bei demselben Kranken nacheinander (ja auch gleichzeitig) verschiedene Störungsformen auf, z. B. bei dem cirkulären Irresein Melancholie und Manie in regelmäßigem Rhythmus; der Blödsinn ferner ist der Ausgang der meisten unheilbaren G. Doch giebt es offenbar eine große Anzahl ihrer Natur (den körperlichen Grundlagen) nach verschiedene Arten von G., deren Abgrenzung allerdings bisher nur sehr unvollkommen gelungen ist. So stellt allem Anschein nach der mit allgemeiner fortschreitender Lähmung der willkürlichen Muskeln einhergehende progressive Schwachsinn oder Blödsinn (Progressive Paralyse der Irren, fälschlich Größenwahn genannt) eine specifische Hirnerkrankung dar, desgleichen das Irresein der Epileptiker u. s. w.

Der Versuch, die G. einzuteilen mit Rücksicht auf die ursächlichen Momente, der insbesondere von Morel (s. d.) unternommen wurde, ist nicht durchführbar, da durch die nämliche Schädlichkeit (z. B. Alkoholmißbrauch) die verschiedenartigsten Formen von Geistesstörung entstehen können, dieselbe Form durch die verschiedensten Ursachen. Zudem ist die Entstehung von G. äußerst selten auf ein einzelnes Moment, meist auf das Zusammentreffen mehrerer zurückzuführen. Man unterscheidet im allgemeinen zwei große Kategorien von Ursachen: die prädisponierenden und die Gelegenheitsursachen. Die erstern sind wieder teils allgemein, teils individuell wirksame. Im allgemeinen hat man insbesondere dem Alter, dem Geschlecht und der fortschreitenden Civilisation gewisse Einflüsse auf die Entstehung von G. zugeschrieben. Das Alter spielt insofern eine Rolle, als sich eigentliche G. (abgesehen von Idiotie) selten finden vor der Pubertät. Am häufigsten sind sie im kräftigen (Mannes-) Alter, bei Männern insbesondere zwischen 25 bis 40 Jahren. Manche Krankheitsformen treten besonders in der Pubertätsperiode auf; bei den Frauen sind auch die klimakterischen Jahre besonders ergiebig. Inwiefern das Geschlecht, desgleichen der Civilstand (Ehe, lediger Stand u. s. w.) als solche eine bestimmte Rolle spielen, läßt sich auf Grund der vorliegenden Statistik nicht mit Sicherheit angeben. Die ziemlich allgemein verbreitete Annahme, daß die neuere Civilisation das Entstehen von G. begünstige, ist streng wissenschaftlich nicht zu erweisen. Denn die Statistik früherer Zeiten ist höchst unvollkommen, und auch gegenwärtig läßt sich die Statistik verschiedener Länder, ja auch nur Provinzen, nicht vergleichen. Da man jetzt genauer zählt als früher, so beweist das Wachstum der statist. Zahlen nicht eine Zunahme der Zahl der Geisteskranken. Nur die Zahl der in Irrenanstalten verpflegten Kranken hat sicher zugenommen, was einmal auf die Vermehrung dieser Anstalten und dann auf die bessern hygieinischen Einrichtungen derselben, wodurch die Lebensdauer der Irren verlängert wird, zurückzuführen ist. Angesichts dieser Verhältnisse ist es auch ungerechtfertigt, diesen oder jenen Faktor der modernen Civilisation für die Zunahme der G. verantwortlich zu machen. In mancher Beziehung bietet die Neuzeit mehr Anlaß zu Gemütserregungen (z. B. der härtere, eine größere geistige Leistungsfähigkeit erfordernde Kampf ums Dasein in den großen Städten), in anderer (z. B. religiöse Fragen) weniger.

Das wichtigste individuell prädisponierende Moment bildet die sog. neuro-(psycho-)pathische Konstitution, d. h. eine ihrer Natur nach meist nicht definierbare, abnorme Beschaffenheit des Nervensystems, die es mit sich bringt, daß selbst auf an sich geringfügige Schädlichkeiten Geisteskrankheit ausbricht. Diese Konstitution ist meist ererbt, d. h. findet sich bei zahlreichen Gliedern derselben Familie und ist so eine Eigentümlichkeit gewisser Familien. Demgemäß erwachsen G. zu einem großen Prozentsatz auf Grund erblicher oder angeborener Anlage (hereditäre Belastung), zum mindesten etwa 30 Proz. In manchen Familien nehmen die Geistes- (bez. Nerven-) Krankheiten von Generation zu Generation schwerere, schließlich mit Verkrüppelung des Körpers (körperliche Degenerationszeichen) einhergehende Formen an (Morels Degenerationsgesetz), in andern Familien kehrt ein- und dieselbe Geistesstörung durch viele Generationen in derselben Form wieder (besonders Selbstmordtrieb), in einer dritten Reihe von Familien erlischt die krankhafte Anlage, um einem normalen Verhalten Platz zu machen. Letzteres ist wohl besonders der Fall bei Vermischung "belasteter" Familien mit gesunden, während um-^[folgende Seite]