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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Gewerkvereine
aller Parteipolitik ausschließlich materielle Vorteile
erstreben. Der bedeutendste derselben, der 1866
begründete "Unterstützungsverein Deutscher Buch-
drucker", ist seit 1893 in den "Verband Deutscher
Buchdrucker" ausgegangen.
In Österreich läuft die Entwicklung der G. pa-
rallel mit der allgemeinen polit. Arbeiterbewegung.
Man unterscheidet in ihr zwei Perioden. Die ältere,
mit den sechziger Jahren beginnend, schuf wohl eine
größere Anzahl von G. und Fachvereinen, zerfiel aber
wieder in sich selbst, nachdem die wegen des Über-
Handnehmens des Anarchismus erfolgte Verhttn-
gung des Ausnahmezustandes diesen Vereinigungen
ein Ende gemacht hatte. Die zweite Periode datiert
erst seit Ende der achtziger Jahre, nachdem der An-
archismus zurückgedrängt und eine Reorganisation
der socialdemokratischen Partei durchgeführt worden
war. Nach den Mitteilungen des "Österr. Arbeiter
kalenders" für 1893 beträgt die Zahl der Fachver-
eine und ihrer Filialen 138, wobei freilich zu be-
merken ist, daß die durch die Gewerbeordnungs
novelle vomI. 1883 bei den Gewerbegenossenschaften
(s. d.) organisierten Gehilfenversammlungen zum Teil
auch als Interessenvertretungen der Hilfsarbeiter
wirken. - 5" d^n österreichischen G. bilden die klein-
gewerblichen Arbeiter das vorwiegende Element; für
die Arbeiter der Großindustrie scheint im allgemei-
nen die gewerkschaftliche Vereinigung vorläufig noch
mit zu großen Schwierigkeiten verbunden zu sein.
In Frankreich findet man teilweise einen direk-
ten Übergang der alten Gesellenverbände (Compag
nonnage, s. d.) in die modernen Gewerk- und Fach-
vereine, hier Syndikate, ckamdreL LMäioales, ge-
nannt. Dabei existieren neben den Arbeitervereinen
auch solche von Arbeitgebern, welche besonders im
öffentlichen Leben als die zuständigen Vertreter der
Verufsinteressen auftreten. Die Entwicklung aller
dieser G. war eine sehr unregelmäßige und ihre
Organisation eine sehr planlose, solange sie unter
dem Einflüsse des Gesetzes vom 17. Juni l79l,
welches fachgenossenschaftliche Verbindungen der
Staatsbürger zur Vertretung ihrer angeblich ge-
meinsamen Interessen direkt verbot, und dem des
Koalitionsverbotes standen. Trotzdem fanden sie
Förderung seitens der Negierung und der polit. Par-
teien, und nachdem durch das Gesetz vom 21. März
1884 jenes Gesetz von 1791 aufgehoben worden war,
trat eine umfassendere Entwicklung und größere
Festigkeit der Verbände sowohl in den Fachvereinen
der Arbeitgeber wie in denen der Arbeitnehmer ein.
Erstere zählten 1892 in 1212 Vereinen 102549 Mit-
glieder, letztere in 1589 Vereinen 288 770 Mitglieder.
Freilich sehlt es an einer umfassenden Centralisie-
rung der Vereine, obzwar immerhin 47 Arbeiter-
^yndikatsverbände gezählt wurden; durch das In-
stitut der sog. Arbeitsbörsen (1892:19) ist hingegen
ein Vereinigungspunkt der G. einzelner wichtiger
Industriestädte geschaffen worden. Vielfach geklagt
wird über das Vorherrschen polit. Parteibestrebun-
gen in den französischen G. und das Zurücktreten
ausschließlich sachlicherTendenzen. Manche G. ver-
schmähen es auch, sich nach dem Gesetz vom 21. März
1884 zu konstituieren und sind daher nicht in der
obigen offiziellen Statistik berücksichtigt.
In Belgien sind die G. erst im Entstehen be-
griffen. Sie sind ebenso wie die franz. Syndikate
zunächst politischer und zwar ausschließlich socialisti-
scher Natur, und eine Hauptrolle spielen in ihnen
die mit der großen amerik. Liga der Ritter der
Arbeit (s" Tni^iitg ok lador) in Verbindung stehen-
den Grubenarbeiter. Im Aug. 1891 wurden 156
Vereine gezählt; 54 von diesen haben ihren Sitz in
Brüssel, 32 bestehen im Kohlendistrikte des Zenne-
gau. Die Centralisierung ist gering, die Gesamtzabl
der Mitglieder beträgt 70000. Die Mehrzahl der
G. (Syndikate) besitzt eine Widerstandskasse; mehrere
haben außerdem noch llnterstützungskassen.
In der Schweiz tritt bei der Bildung von G.
der Gegensatz zwischen dem ausschließlich schweiz.
Fachverein und dem polit. Gewerkverein reichs-
deutscher Arbeiter scharf zu Tage. Der älteste und
umfangreichste Gewerkverein ist der 1858 gegründete
Schweizerische Typographenbund, welcher 1890 in
22 Sektionen 1150 Mitglieder zählte. 1880 wurde
ein allgemeiner Gewerkschaftsbund errichtet, 1886
als ein Verband von Verbänden eine "Allgemeine
schweiz. Arbeiterreservekasse" begründet, 1. April
1891 letztere mit dem allgemeinen Gewerkschafts-
bunde verschmolzen. Dieser zählte 1891 in 193
Sektionen 7000 Mitglieder. In den andern europ.
Ländern befinden sich die G. meist noch im ersten
Stadium der Entwicklung.
Juden Vereinigten Staatenvon Amerika
sind die G. vielfach nur Kampfgenossenschaften und
haben noch nicht jene Ausdehnung und Festigkeit
erlangt wie die englischen G. Eigentümlich ist hier
hingegen die Bildung von großen Arbeiterorgani-
sationen, die nicht nur einen Industriezweig ver-
treten, sondern die verschiedenartigsten Arbeiterver-
bände und Erwerbszweige umfassen. Manche von
diesen haben große Bedeutung erlangt; so die ^nieri-
cau ^Läklktion oll^dor für die ganze Union, welche
1891675 000 Mitglieder zählte und namentlich durch
ihr energisches Eintreten für die Durchführung der
Achtstundenarbeit bekannt geworden ist. Auch die
Xni^kt8 ol 1iU"or sind hier zu nennen.
Auch in Australien haben es die G. im engsten
Anschluß an die engl. Bewegungen zu einer beson-
dern Entwicklung und Organisation gebracht. Ihre
wesentlichste Errungenschaft ist der Ächtstundentag.
Neben rein gewerblichen und städtischen bestehen jetzt
auch G. von ländlichen Arbeitern, den Scherern, die
jür Südaustralien, Victoria und Neusüdwales einen
Gewerkverein von 25000 Mitgliedern bilden.
Litteratur. Allgemein: Thornton, Die Ar-
beit, ihre unberechtigten Ansprüche und ihre berech-
tigten Forderungen, ihre wirkliche Gegenwart und
ihre mögliche Zukunft (deutfch von Schramm, Lpz.
1870); Brentano, D"as Arbeitsverhältnis gemäß
dem heutigen Recht (ebd. 1877); derf., Arbeits-
einstellungen und Fortbildung des Arbeitsvertrags
(Bd. 45 der "Schriften des Vereins für Social-
politik", ebd. 1890) und Verhandlungen der Ge-
neralversammlung des Vereins für Socialpolitik
(Bd. 47 der "Schriften des Vereins für Socialpoli-
tik", ebd. 1890); Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften, Bd. 4 (Jena 1892), S. 1-47. Für Eng-
land: Brentano, Die Arbeitergilden der Gegen-
wart (2 Bde., Lpz. 1871-72; Bd. 1, Zur Geschichte
der englischen G.; Bd. 2, Zur Kritik der englischen
G.); von Schulze-Gävernitz, Zum socialen Frieden
(2 Bde., ebd. 1890); Howell, Ii-aäe Ilnionisin ne>v
anä oiä (Lond. 1891); Webb, H^tor? ok ^1-2^68
IIni0ni8m (ebd. 1894). Für Deutschland: Mar
Hirsch, Was bezwecken die G.? (16. Aufl., Verl.
1894); ders., Thätigkeit und Entwicklung der deut-
schen G. und ihres Verbandes (ebd. 1889); Walcker,
Die Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung