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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Kleinrussen; Kleinrussische Litteratur

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Kleinrussen - Kleinrussische Litteratur

Kleinrussen, slaw. Volksstamm im südl. Rußland, Galizien und Ungarn (in diesen beiden Ländern meist Ruthenen genannt). Die ungefähre Nordgrenze des kleinruss. Sprachgebietes gegen das Weißrussische und Großrussische wird gebildet durch eine Linie von Bjelostok bis an die Mündung der Pripet in den Dnjepr, von da bis Saratow an der Wolga; die Westgrenze gegen das Polnische durch eine ungefähre Linie von Bjelostok nach Lublin, von da über Jaroslaw nach Sandec in Galizien; die Südgrenze gegen das Slowakische und Magyarische durch eine Linie von Sandec über Ungvár nach Szöllös und an die obere Theiß, gegen das Rumänische durch eine Linie von da nach Czernowitz, von hier nach Chotin, endlich durch den Lauf des Dnjestr. Die Zahl der K. in Rußland wird auf 14500000, die der österr. Ruthenen auf 3100000 angegeben. Die K. fühlen sich als einen von den Großrussen verschiedenen Stamm und sind stark unterschieden von diesen durch Sitte, Lebensweise und Lebensanschauung, namentlich aber durch die Sprache. (S. Russische Sprache.) - Vgl. Trudy etnografičesko-statističeskoj ekspedicii v zapadnoruskij kraj, Bd. 7 (Petersb. 1872); Rittich, Die Hauptstämme der Russen (in Petermanns "Mitteilungen", Bd. 24, Gotha 1878); Pypin, Istorija russkoj etnografii, Bd. 3 (Petersb. 1891).

Kleinrussische Litteratur. Die K. L. fällt bis zum 18. Jahrh. mit der ältern Periode der russ. Litteratur überhaupt zusammen (s. Russische Litteratur). Während der Tatarenzeit war Süd- und Westrußland an Litauen (seit dem 13. Jahrh.) und Polen (1340) gekommen, dann Litauen und Polen durch eine Personal-, zuletzt polit. Union (1569) vereinigt worden. Auf diese polit. Trennung von Großrußland folgte nun eine kulturelle und kirchliche: der griech.-orthodoxe Adel wurde durch Verbindungen mit dem polnischen, durch den Einfluß von poln. Schule, Gesellschaft und Staat erst polnisch, dann katholisch; russisch-orthodox blieben nur Bürger, Bauer und Pope. Der Einfluß Roms und der Jesuiten einerseits, andererseits das Entgegenkommen des russ. Episkopats führte sogar zur Union dieser südwestruss. Kirche mit Rom (1596). Widerstand erhoben Fürst Konstant. Ostroshskij (Einrichtung von Schule und Druckerei in seinem Ostrog in Volhynien, Druck der ersten vollständigen Bibel, "Ostroger Bibel", 1581), besonders jedoch die religiösen "Bruderschaften" in Lemberg, Wilna, Kiew u. a., von denen intensivere Pflege religiösen Lebens und erste Schaffung von Schulen und Lehrmitteln ausgingen. Mittelpunkt neuen geistigen Lebens wurde nun Kiew, zumal seit der Gründung eines Kollegiums durch den Metropoliten Peter Mohyla (1632); dasselbe lehnte sich an die poln. Schulen und deren theol.-scholastische Richtung an, entnahm ihr aber auch ein gut Teil weltlichen, philos., histor. und litterar. Wissens und wurde zum Vermittler desselben nach Moskau selbst; an ihm wirkten die Prediger, Polemisten und Dichter, wie Galjatowskij, Baranowicz u. a.; aus ihm gingen Männer hervor, wie der heil. Dmitrij von Rostow, Stephan Jaworskij und Theophan Prokopowitsch, die als Mitarbeiter der Reformen Peters d. Gr. (von dem das Kolleg zur Akademie erhoben wurde) für die großruss. Geistesentwicklung von Bedeutung wurden. Die lat.-scholastische Bildung mit ihrer kirchenslaw.-poln.-kleinruss. Sprache dauerte bis ins 18. Jahrh., wo sie anfing sich mit der allgemeinruss. Bildung zu verschmelzen. Der vollständige Bruch mit der Scholastik trat Ende des 18. Jahrh. ein, wo die in den westeurop. Litteraturen herrschenden Richtungen in die K. L. eindrangen. Der erste moderne kleinruss. Dichter war I. P.^[Iwan Petrowitsch] Kotljarewskij (s. d.), der Hauptvertreter der sentimentalen Litteratur der bei seinen Landsleuten hochgeschätzte G. F. Kwitka (s. d.). Der Einfluß der Romantik äußerte sich in der K. L. teils im Interesse für die westeurop. Poesie (Übersetzungen), teils in der Nachahmung russ. und poln. Dichter (Puschkin, Lermontow, Shukowskij, Mickiewicz). Gleichzeitig begann das Nationalbewußtsein zu erwachen. Das Interesse für die heimische Vorzeit, für das Volksleben zeigte sich in der Litteratur, in der vaterländische Stoffe vorherrschten und die die kleinruss. Vorzeit verherrlichte, zum Teil auch in großrussisch geschriebenen Werken. Die ersten noch unkritischen Sammlungen von Volksliedern erschienen, wie die von Maksimowitsch. Die bedeutendste Erscheinung dieser Richtung ist Gogols "Tarasj Buljba"; von andern sind zu nennen E. Grebenka, Kulisch u. a. Diese kleinruss.-patriotische Richtung, die sich zuerst in dem Gefühl der Zusammengehörigkeit Klein- und Großrußlands äußerte, entwickelte sich später weiter zum sog. Ukrainophilentum, das ein selbständiges Volkstum der Kleinrussen betonte, panslawistische Bestrebungen zeigte und für die Bauernbefreiung wirkte. Diese Bewegung gab sich in der wissenschaftlichen Litteratur durch eine Reihe histor. und ethnogr. Forschungen kund. In der Poesie war ihr hervorragendster Vertreter der größte kleinruss. Dichter Taras Schewtschenko (s. d.). Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) erhielt die Erforschung des Volkslebens einen neuen Aufschwung. Das Organ dieser Bestrebungen war das Journal "Osnova" (Kiew 1861-62). Als Volkslektüre erschienen zahlreiche Schriften unterhaltenden und belehrenden Inhalts; ferner Lehrbücher aller Art. Von Ethnographen und Sammlern sind zu nennen: Tschubinskij (s. d.), Dragomanow, Rudtschenko, Nomis (Simonow) u. a., von Historikern Antonowitsch, Kulisch, besonders aber Kostomarow, von Sprachforschern Potebnja u. a. Die schöne Litteratur schilderte ebenfalls mit Vorliebe das Volksleben. Zu den besten Schriftstellern gehört Frau Maria Markowitsch (s. d., pseudonym Marko Wowtschok). I. S.^[Iwan Semenowitsch] Lewizkij, P. Mirnyj, Kropiwizkij u. a. behandeln mehr die dunklen Seiten der untern Klassen. Jedoch wurde die weitere Entwicklung dieser Litteratur, die von russ. Seite, zumal durch Katkow, mißgünstig angesehen und seit 1863 separatistischer, polonisierender oder gar socialrevolutionärer Tendenzen angeschuldigt wurde, nach allerlei Einschränkungen von seiten der Censur endgültig durch den Ukas vom 18./30. Mai 1876, der die Einfuhr und den Druck kleinruss. Schriften und die Aufführung kleinruss. Theaterstücke verbot, abgeschnitten; seit dieser Zeit ist die K. L. wesentlich auf Galizien und das Ausland angewiesen.

Die Litteratur der galizischen Russen (Rotrussen, Ruthenen, Russinen) hat sich unter ungünstigen Verhältnissen entwickelt. Von ihren kleinruss. Stammesgenossen durch polit. und religiöse Verhältnisse getrennt, haben die Ruthenen einen schweren Stand gegen die Polen, um so mehr, als ihre Bestrebungen, ihre Sprache und Nationalität zu heben, zeitweise von der Regierung unterstützt, dann wieder als staatsgefährlich unterdrückt wurden. Ein Bändchen von Volksliedern und eigenen Dichtungen einiger Lemberger Stu-^[folgende Seite]

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