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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Marokko (Sultanat)

ergießen. Die am Südabhange entspringenden versiegen bald in der Wüste oder werden zu Wadis, wie Wadi-Susfana, Wadi-Sus, Wadi-Draa, Wadi-Nun, und bilden Oasen.

Bis zum Südhang des Großen Atlas gehört die Pflanzenwelt und die sich daran anschließende Produktionsfähigkeit zu der atlantischen Mittelmeerflora. Bemerkenswert sind im W. die Wälder des Arganbaumes (Argania sideroxylon R. et S.), aus dessen Nüssen man Öl preßt. Im Atlas bildet ein Kranz verkümmerter immergrüner Eichen bei 2400-2700 m Höhe die Baumgrenze. Die Tierwelt ist eine ausgesprochen nordafrikanische und bietet nichts besonderes.

Die Bevölkerung, auf 9 250 000 E.geschätzt, besteht aus 3,7 Mill. Arabern, 5 Mill. Berbern neben 150 000 Juden, etwa 200 000 Negern und vielleicht 4-5000 Europäern. Die Araber sind am wenigsten vermischt im NW., ausgenommen im Rifgebiet, und im W. nördlich einer Linie Mogador-Marokko. Die Berbern (s. d.), allerdings auch mit arabischredenden Stämmen vermischt, bewohnen das übrige Land; man gliedert sie in drei durch Sprache, Sitte und Körperbau voneinander verschiedene Gruppen. Zwischen dem Wadi Draa und der Oase Tuat am Wadi Saura wohnen die Charatin oder Harratin, dunkelfarbige, ziemlich verachtete Mischlinge von Berbern und Negern. Neben den Arabern sind nur die Schilluh, seit 1832 und 1886, dem Sultan unterthan; die andern Berbern sind teils ganz frei, teils nur so lange unterworfen, als der Sultan mit dem Heere bei ihnen ist, um Steuern einzutreiben. Alle sind fanatische Moslim, die den Fremden den Zugang in ihr geheiligtes Land versperren. Reisende können nur als offizielle Geschäftsträger einer europ. Macht und unter Bedeckung sich im Lande bewegen.

Hauptstädte sind M. und Fes, wichtig sind außerdem das bedeutende Tanger, Mogador, Tetuan, Wessan oder Uesan und Mekines.

Die Verfassung ist rein despotisch. Der Titel des Herrschers, den die Europäer gewöhnlich Kaiser, die Mauren Sultan nennen, ist Emir el-Mumenin, d. i. Fürst der Gläubigen. Der Staat zerfällt in zwei vom Atlas getrennte Hälften, deren nordwestliche, der Mauretania Tingitana der Alten entsprechend, von N. her durch die ehemals selbständigen Reiche Fes und M. im engern Sinne, mit der Provinz Sus und Wadi-Nun, deren südöstliche aber, die Gaetulia der Alten, von den Provinzen Tafilelt und el-Draa gebildet wird. Politisch sind die beiden Reiche Fes und M. in Provinzen (Amalât) geteilt, die durch Kaïds regiert werden. Die Verwaltung der einzelnen Provinzen ist, wie die Centralregierung, ganz orientalisch. Eine geordnete Regierung wird durch die häufigen Empörungen der fast unabhängigen Stammeshäuptlinge unmöglich gemacht. Die Staatseinkünfte sind unbestimmt; die Zolleinnahmen werden auf 6,4 bis 9,6, das Budget des Sultans auf 5,6 Mill. M. geschätzt. Das Heer besteht aus einer erblichen berittenen Leibgarde (400 Mann), 1000 Mann gewaltsam geworbener Infanterie, 2000 Mann irregulärer Reiter und 18 000 Mann Miliz. Im Kriegsfalle sollen noch 40 000 Mann irregulärer Reiter zur Verfügung stehen. Das Seewesen war früher bedeutend und die marokk. Piraten machten sich im 16. und 17. Jahrh. allen europ. Seemächten, vorzüglich aber Spanien, furchtbar. Jetzt hat der Sultan nur noch einige unbedeutende Schiffe. - Das Wappen zeigt in Grün drei silberne Halbmonde. Die Flagge ist rot. (S. Tafel: Flaggen der Seestaaten.)

Erzeugnisse, Handel und Verkehr. Der Gewerbfleiß ist verschwindend klein und befaßt sich mit der Verfertigung von roten Mützen (Fes) und feinem Leder, sog. Maroquin, daneben mit Seidenweberei, Teppichfabrikation, Flechterei und Töpferei. Der Wohlstand des Landes beruht nur auf Ackerbau und Viehzucht; geringe Ernten bringen die Bewohner oft in sehr bedrängte Lage und rufen Handelsstockungen hervor. Weizen, Gerste, Mais, Durrah werden in günstigen Jahren im Überfluß geerntet, sind dann aber von geringem Wert, da ihre Ausfuhr streng verboten ist; außerdem erntet man noch Datteln, Bohnen, Erbsen, Gummi, die neben Ochsen, Wolle, Wachs, Teppichen, Straußenfedern, Pantoffeln die Hauptausfuhrartikel bilden. Einfuhrwaren, vornehmlich aus Frankreich und England stammend, sind Zucker, Tuche, Eisen- und Kurzwaren, Baumwoll- und Seidenzeuge, Kerzen, Papier, Thee und Sprit. Obschon der Handel wegen der geringen Kaufkraft seiner Bewohner ohne große Bedeutung ist, ist das Land doch wichtig wegen der regen Handelsbeziehungen zum Westsudan und den Senegalländern. In die 8 Häfen Casablanca, Arisch, Masagan, Mogador, Rabat, Safi, Tanger und Tetuan liefen (1891) 2348 Schiffe mit 897 976 t ein; der Wert der Einfuhr betrug 1,83, der der Ausfuhr 1,73 Mill. Pfd. St.

Geschichte. M., das Mauretania Tingitana der Römer (s. Mauretania), seit dem 5. Jahrh. frei, kam um 700 n. Chr. unter die Herrschaft der Araber und wurde unter den Almoraviden (s. d.) unabhängig. Diese verloren um 1150 die Herrschaft an die Almohaden, die 1275 durch die Meriniden gestürzt wurden. Diesen folgten nach 1361 die Sanditen und Anfang des 16. Jahrh. die Scherife von Tafilelt, unter denen trotz der innern Thronstreitigkeiten gegen Ende des 16. Jahrh. das Reich emporblühte und seine größte Ausdehnung erlangte, indem es den westl. Teil von Algerien umfaßte und im Süden bis Guinea reichte. Unter ihnen sahen sich auch die Portugiesen aus ihren Besitzungen vertrieben und ward König Sebastian (s. d.) geschlagen. Nach dem Tode Ahmeds, des mächtigsten der Scherifs, um 1603, zerfiel das Reich durch die fortwährenden innern Kämpfe immer mehr, so daß es dem Mulei Scherif, einem Nachkommen Alis und der Fatime, leicht wurde, die Dynastie der ersten Scherife um die Mitte des 17. Jahrh. zu stürzen und die der zweiten, die jetzt noch regiert, auch die Dynastie der Aliden oder Hoseini genannt, zu begründen. Der berüchtigtste Herrscher dieser Dynastie war Mulei Islâm, der 1672-1727 als der größte Despot regierte. Unter seinen Nachfolgern herrschten innere Kriege und Thronstreitigkeiten, die das Land immer mehr in Verfall brachten, bis zur Regierung Mulei Sidi Mohammeds (1757-89), die sich durch Milde und das Bestreben, europ. Kultur Eingang zu verschaffen, auszeichnete. Nach Mohammeds Tode begann wieder die alte Barbarei. Erst unter dem Sultan Mulei Suleiman (1794-1822) entwickelte sich teilweise ein besserer Zustand. Ihm folgte Abd ur-Rahmân (s. d.), dem es gleich nach seinem Regierungsantritt gelang, der Empörung der Gebirgsstämme ein Ende zu machen. Als Abd el-Kader (s.d.) sich auf marokk. Gebiet zurückziehen mußte, gab die Unterstützung, die er hier fand, Veranlassung zum