Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

773

Mensch

Verständigung über ein gemeinsames kraniologisches Verfahren (die von Virchow, Kollmann und Ranke ausgegangene Frankfurter Verständigung) zwischen der Mehrzahl der hervorragendsten Kraniologen des Kontinents zu stande zu bringen, der sich 1886 eine "Internationale kraniologische Vereinigung" anreihte, an der sich auch die Franzosen und Engländer, welche letztern die Anregung dazu gegeben hatten, beteiligten. Neue, sehr ins Einzelne gehende kraniometrische Methoden stellten Benedict und von Török auf. Für die anthropol. Aufnahmen und Messungen lebender M. wird von den deutschen Forschern ein von der Berliner Anthropologischen Gesellschaft herausgegebenes, von Virchow entworfenes Schema benutzt, das alle Körperverhältnisse bis ins Einzelnste in Betracht zieht. Für die messende Bestimmung der Haut- und Haarfarben dient die Farbentafel in Brocas "Instructions générales de la Société d'anthropologie" (2. Aufl., Par. 1879) und Raddes "Farbentafeln". - Vgl. P. Topinard, Éléments d'anthropologie générale (Par. 1885); (E. Schmidt, Anthropol. Methoden (Lpz. 1888); Bertillon, Das anthropometrische Signalement (deutsch von Surg, Bern und Lpz. 1895).

3) Kulturgeschichtliches. Die niedrigste Kulturstufe der sog. Wilden entspricht etwa der der prähistor. Bewohner Europas in der Steinzeit und der beginnenden Metallperiode: Jäger-, Krieger- und Fischervölker mit dem Übergang zu Viehzucht und Ackerbau, mit den für diese Kulturformen nötigen Künsten und Handwerken, Waffen und Geräten, die überall die größte Übereinstimmung erkennen lassen. Die Kunst des Feuerschlagens, Feuerreibens oder Feuerbohrens fehlte keinem der historisch bekannten oder der heutigen Kulturvölker. Ebenso finden sich überall irgend welche Gefäße aus Stein, Holz, Geflecht, Fruchtschalen, Thon u. a. Die Kunst der Thontöpferei ist jedoch nicht allgemein verbreitet; trotzdem werden die Speisen, namentlich Fleisch, überall, wenn auch oft in der primitivsten Weise, gekocht oder gebraten. Man kennt auch kein Naturvolk, das neben der freilich bei vielen sehr vorwiegenden Fleischnahrung (über Anthropophagie s. Kannibalismus) nicht auch Vegetabilien verzehrte. Dabei finden sich aber auch bei Naturvölkern auffallende Speiseverbote teils für alle, teils für bestimmte Familien, teils nur für Mutter oder Vater vor. Auch nervenreizende Genußmittel und namentlich auch Alkoholika scheinen nirgends zu fehlen (Tabak, Sirih, Betel, Kaffee, Thee, Bier, Kawa u. s. w.). Kein Naturvolk entbehrt der Kunst des allerdings oft sehr primitiven Wohnungsbaues, wenn auch mehrfach namentlich für die ungünstige Jahreszeit Höhlen benutzt werden. Nacktheit bei einem oder bei beiden Geschlechtern scheint in tropischen Klimaten bei Erwachsenen als Volkssitte nur ausnahmsweise, dagegen bei Kindern relativ häufig vorzukommen; aber dann fehlt fast niemals wenigstens Schmuck der verschiedensten Art, der ebenso bis zu einem gewissen Grade als Ersatz für die Kleidung angesehen werden kann, wie die über die ganze Welt, auch unter den Kulturvölkern verbreitete Sitte des Tättowierens. Die ursprünglichste Kleidung ist die Tierhaut oder das Feder- oder Blätterkleid. Die Gerberei, aber auch die Künste des Flechtens, Nähens und Webens gehören zu den Urkünsten der Menschheit; doch findet man in der Südsee wie in Centralafrika, Südamerika u. s. w. auch vielfach Stoffe aus geklopfter Rinde (Tapa). Im allgemeinen zeigt sich die Kleidung, wo sie sich findet, wie die Wohnung dem Schutz gegen Witterungseinflüsse angepaßt. Kein Naturvolk läßt das Bestehen der Familie vermissen, welche sich wie schon im Altertum so auch heute noch teils auf die Zugehörigkeit zur mütterlichen (Matriarchat), teils auf die zur väterlichen (Patriarchat) Familie gründet. Auch die Ehe (s. d., Monogamie und Polygamie) fehlt nirgends, und gerade bei sonst in der Kultur sehr tief stehenden Stämmen, z. B. den Wedda auf Ceylon u. s. w., ist sie monogam und wird sehr streng von beiden Ehegatten gehalten. Nirgends fehlen die ersten Grundzüge eines öffentlichen oder staatlichen Lebens mit feststehenden Rangunterschieden, meist sich anschließend an die Familie. Ebenso sind bestimmte gesetzliche Vorschriften vorhanden. Auch primitive religiöse Anschauungen und Kulthandlungen mit Symbolen, sehr oft im Zusammenhang mit der Ausübung der Medizin, finden sich, wie es scheint, ausnahmslos, ebenso Tänze, die nicht selten zum Gottesdienste geboren, und Musik mit einfachsten oder höher entwickelten Musikinstrumenten. Die Bezeichnung der civilisierten Völker als Schriftbesitzende und der uncivilisierten als schriftlose Völker ist nicht mehr streng richtig, da man auch bei den in der Kultur am tiefsten stehenden Australiern Schriftsurrogate an Botenstöcken u. s. w. aufgefunden hat; eine Bilderschrift scheint keinem Volke zu fehlen. Auch zur Zählkunst sind alle Stämme fortgeschritten, indem sie zur Bildung des Mehrheitsbegriffes, zunächst zur Zahl Zwei (die beiden Redenden), nächstdem zur Zahl Drei (die beiden Redenden und noch ein Anderer) und dann zur Zahl Fünf (entsprechend den Fingern einer Hand) u. s. w. gelangten. Das geistige und Gemütsleben zeigt überall auf der Erde die überraschendsten Analogien und Übereinstimmungen ("Völkergedanke"), das Gleiche gilt für die primitiven Künste und Industrien; die Ornamente sind überall teils Bilderschrift oder wenigstens aus solcher entstanden, teils der veredelte Ausdruck der Spuren der Herstellungstechnik.

4) Psychologisches, s. Psychologie und Völkerpsychologie.

5) Über Urgeschichte s. d.

6) Verbreitung des M. über die Erde, s. Bevölkerung.

Die neuere Litteratur der Naturgeschichte des M. ist zum Teil enthalten in den Verhandlungen der anthropol. Gesellschaften von Berlin (Verhandlungen in der "Zeitschrift für Ethnologie"), Paris ("Mémoires " und "Bulletins", seit 1860), London ("Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland", seit 1863), Wien, Stockholm und Kristiania; ferner im Archiv für Anthropologie (Braunschweig), im Centralblatt für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (Breslau), in der Revue mensuelle de l'École d'anthropologie (Paris), in der Zeitschrift L'Anthropologie (ebd.), in den Beiträgen zur Anthropologie und Urgeschichte Bayerns (München) und in einzelnen größern Reisewerken. Von Specialwerken sind außer den unter Urgeschichte genannten zu nennen: Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts (4 Bde., Lpz. 1840-48); Nott und Gliddon, Types of Mankind (Philad. 1857); Karl Vogt, Vorlesungen über den M., seine Stellung in der Schöpfung und der Geschichte der Erde (2 Bde., Gießen 1863-65); Charles Darwin, Die Abstammung des M. (übersetzt von V. Carus, 5. Aufl., Stuttg. 1890); Lyell, Das Alter des Menschen-^[folgende Seite]