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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Metrik

Die M. der modernen Völker unterscheidet sich von derjenigen der Alten meistens und hauptsächlich dadurch, daß die einzelnen Silben nicht wie dort ihre unabhängige, auf der eigenen Beschaffenheit beruhende Messung haben (quantitierendes Princip), sondern ihr metrischer Wert und deshalb auch ihre Zusammenfügung zu Versen durch ihre Betonung im einzelnen Worte und zuweilen auch durch die Satzbetonung bestimmt wird (accentuierendes Princip). Das gilt namentlich von dem germanischen Versbau. Der altdeutsche Vers beruht nicht auf dem Wechsel von Länge und Kürze, wie der antike, sondern auf dem von Hebung und Senkung. So viel Hebungen der Vers hat, so viel Takte; die Senkungen dürfen unter Umständen fehlen; Hebung und Senkung sind auflösbar. Der älteste bekannte german. Vers ist die achttaktige Langzeile (s. d.), die durch Cäsur in zwei Kurzzeilen (s. d.) geteilt wurde: von den vier Hebungen jeder Kurzzeile wurden unter dem Einfluß der german. Betonungs- und Auslautgesetze und mit Hilfe der Allitteration (s. d.) zwei (oder eine) Haupthebungen über die andern erhöht. Die Langzeile trat sowohl in (vierteiligen) zum Gesang bestimmten Strophen als in langen unstrophischen, auf Recitation berechneten Reihen auf. Als dann der Reim (s. d.) in die deutsche Poesie eindrang, wurde in den Langzeilenstrophen der Schluß einer Langzeile auf die andere gereimt (s. Nibelungenstrophe), in den viel häufigern nicht zu Strophen geschlossenen Langzeilen die Cäsur mit dem Schluß der Langzeile im Reim gebunden; so entstand das von Otfried an in aller unstrophischen deutschen Dichtung bis auf Opitz herrschende Reimpaar (s. d.) aus zwei viertaktigen Kurzzeilen. Von Otfried noch sorgfältig gebaut, verwilderten diese Kurzzeilen im 11. und der ersten Hälfte des 12. Jahrh. durch Überfüllung der Senkungen so, daß man sie für Prosa hat halten können. Erst seit etwa 1100 entwickelte sich der deutsche Versbau unter dem Einfluß der roman. Poesie und der Musik schnell zu einer Vollkommenheit und Feinheit, die noch heute Bewunderung abnötigt; die Zeit legte Heinrich von Veldeke das Verdienst bei, die guten Verse eingeführt zu haben. Während das Epos die alte Freiheit, Senkungen fehlen zu lassen, dauernd festhielt, entsagte der noch kunstvollere Minnesang, dessen Virtuosität in Strophenbau und Reimtechnik nie wieder erreicht worden ist, diesem Rechte aus musikalischen Gründen fast ganz, führte den regelmäßigen Wechsel einsilbiger Hebung und Senkung ein und wirkte damit auch in Epos und Didaktik auf die Reimpaare zurück, die von Konrad von Würzburg mit der technischen Strenge der lyrischen Zeilen gebaut werden. Aber das hält nicht vor. Von neuem verfallen im 14. und 15. Jahrh. die Reimpaare der Anschwellung durch überschüssige Senkungen; andererseits erwächst aus den bei dem regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung meist silbengleichen Versen, die die Technik des Minnesangs ergab, im Meistergesang das rohe Princip der Silbenzählung. Auch dieser metrische Grundsatz wirkte wieder auf die Reimpaare: im 16. Jahrh. gehört zu einer Kurzzeile nur, daß sie vier Hebungen und acht (oder bei weiblichem Versausgang neun) Silben habe (s. Knittelverse); wie sich Hebungen und Senkungen verteilen, ist gleichgültig.

Die Erkenntnis des altdeutschen Versbaues dankt man vor allem Karl Lachmann ("Über althochdeutsche Betonung und Verskunst" im 1. Bande der "Kleinern Schriften", Berl. 1876). Lachmanns zahllose, in seinen Ausgaben verzettelte, aber aus einheitlicher Beobachtung erwachsene Bemerkungen über die klassische mittelhochdeutsche Verskunst stellte zu einem System übersichtlich zusammen Zarncke in der Einleitung seiner Ausgabe des Nibelungenliedes (6. Aufl., Lpz. 1887) und von Muth, Mittelhochdeutsche M. (Wien 1882). Vgl. ferner H. Möller, Zur althochdeutschen Allitterationspoesie (Kiel 1888); Wilmanns, Der altdeutsche Reimvers (Bonn 1887); ders., Untersuchungen zur mittelhochdeutschen M. (ebd. 1888); Sievers, Altgermanische M. (Halle 1892); Heusler, Zur Geschichte der altdeutschen Verskunst (Berl. 1891); ders., Über german. Versbau (ebd. 1894); Paul, im "Grundriß der german. Philologie", Bd. 2 (Straßb. 1889-93). (S. auch Allitteration und Langzeile.)

Mit Martin Opitz' "Buch von der deutschen Poeterey" (Bresl. 1624) dringt ein ganz anderes Princip in den deutschen Versbau ein, das sich, durch die zahllosen poet. Trichter, Helikone und andere poet. Anleitungen des 17. Jahrh. unterstützt, sehr schnell Geltung verschafft. Die neudeutsche M. kennt im allgemeinen keine fehlenden oder doppelten Senkungen, keinen freien Auftakt, keine schwebende Betonung und keine Auflösungen; sie kennt nur einen eintönigen Wechsel zwischen betonter und unbetonter Silbe: nur im Kinder- und Volksliede sowie bei Dichtungen, die absichtlich einen natürlichen oder nachlässigen Volkston anstreben, finden sich Reste der alten Grundsätze germanischer M. Diese Einförmigkeit des neudeutschen Rhythmus, die nur von wenigen Dichtern mit so genialer Sicherheit durchbrochen oder vielmehr weiter entwickelt wurde wie von Goethe, führte dahin, daß man anfing, die reichern Rhythmen antiker (namentlich daktylischer und anapästischer) sowie anderer fremdländischer Verse nachzuahmen; diese Versuche, in denen Klopstock, Joh. Heinr. Voß, Goethe und Platen das Höchste leisteten, haben, so künstlich sie waren, doch den Reichtum und die Feinheit der neudeutschen M. sehr bedeutend erhöht. Die theoretische Erforschung und Feststellung der neudeutschen M. hat nach Opitz und seinen Nachfolgern Zesen, Harsdörffer, Buchner u. s. w. zuerst Joh. Heinr. Voß in seiner "Zeitmessung der dentschen Sprache" gefördert, freilich, wie die meisten Darstellungen der Folgezeit, allzusehr abhängig vou den Anschauungen der antiken M., durch die man sich z. B. verleiten ließ, Verse ohne Auftakt als trochäisch, Verse mit Auftakt als iambisch anzusehen u. s. w. - Vgl. Minckwitz, Lehrbuch der deutschen Verskunst (6. Aufl., Lpz. 1878; auch zu antikisierend); Westphal, Theorie der neuhochdeutschen M. (2. Aufl., Jena 1877); Schmeckebier, Deutsche Verslehre (Berl. 1886). Die neueste und beste ist: Minor, Neuhochdeutsche M. (Straßb. 1893). Exakte Messungen nach naturwissenschaftlicher Methode hat mit großem Erfolg auf die Vortragsweise der neudeutschen Verse angewandt E. von Brücke, Die physiol. Grundlagen der neuhochdeutschen Verskunst (Wien 1871).

Die englische M. ist neuerdings von Schipper, Englische M. (2 Bde., Bonn 1881-88), eingehend dargestellt worden; auch sie geht aus von der german. allitterierenden Langzeile und bildet sich namentlich unter roman. Einflusse fort. - Die französische Verskunst behandelten namentlich Tobler (Vom franz. Versbau, 2. Aufl., Lpz. 1883), Becq de Fouquières und Lubarsch; vgl. Hum-^[folgende Seite]