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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Naturalĭa non sunt turpĭa; Naturalĭen; Naturalisation; Naturalisieren; Naturalismus

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Naturalia non sunt turpia - Naturalismus

gestaltet. Besonders unterscheidet man die N. von allem, was Produkt des Gedankens, der Absicht, der Kunst, der Kultur und Erziehung ist: das Natürliche steht dem Gemachten und Gekünstelten als das von selbst Entstehende gegenüber. Insofern aber für das geistige Leben das bewußte Wollen und Handeln charakteristische Merkmale sind, erscheint der Geist für sich selbst, samt allem, was Ausdruck des geistigen Lebens ist, als Gegensatz der N., und somit spricht man von einem Gegensatze bald der N. und des Geistes, bald der N. und der Freiheit, der N. und der Kunst, der N. und der Geschichte. N. im engern Sinne dagegen nennt man den unermeßlichen Raum samt allen in ihm vereinigten Stoffen und Kräften, oder den Inbegriff dessen, was durch die äußern Sinne wahrnehmbar ist, im Gegensatz zu dem, was durch unmittelbares Selbstbewußtsein im Innern vernommen wird.

Das Hirtenleben und der Ackerbau bezeichnen die ältesten Beziehungen des Menschen zur N.; die Beobachtung der Vorteile, die ihm gewisse Naturprodukte gewähren, lehrte ihn frühzeitig die N. für seine Zwecke benutzen. Da nun die N. dem menschlichen Willen bald hilfreich entgegenkommt, bald seine Ziele durchkreuzt, so erscheint sie dem Menschen bald als gütig und mild, bald als tückisch und grausam, und der noch kindliche Natursinn, der die Zustände des eigenen Bewußtseins leicht auf alles überträgt, was sich ihm als thätig und wirksam darstellt, kam unwillkürlich dazu, die N. mit Geschöpfen seiner Phantasie zu bevölkern, die Naturereignisse zu personifizieren, dem Rollen des Donners wie dem Rauschen des Baches lebende Wesen unterzulegen. Hier liegt der Ursprung aller Naturreligion, d. h. einer Vergötterung sowohl der N. im ganzen, als der in ihr vorausgesetzten Kräfte, ja selbst einzelner Naturprodukte. Diese Form der Naturbetrachtung tritt notwendig zurück, wenn die beweglichen Bilder der Phantasie in Begriffen sich zu fixieren, wenn die Dichtung von der Wirklichkeit sich zu sondern beginnt. Auf den Begriff eines Naturgesetzes führte zunächst die wiederholte Beobachtung solcher Erscheinungen, deren Regelmäßigkeit unverkennbar ist. Die Anwendung des einmal gewonnenen Begriffs erweiterte sich, je mehr der Fortschritt der Naturforschung zeigte, daß auch das scheinbar Unregelmäßige nur auf verwickeltern Zusammenhängen beruhe, bis endlich unzählige Erfahrungen zu der allgemeinen Voraussetzung drängten, daß die N. überall nach unverbrüchlichen Gesetzen wirke und daß die scheinbaren Ausnahmen nicht ein gesetzloses Spiel seien, sondern nur Lücken unserer Erkenntnis verraten, die noch nicht alle Gesetze ergründet hat.

Die Ausbildung der Idee der N. in ihrer Ganzheit ist die Aufgabe der Naturphilosophie (s. d.). Das Bestreben der Naturwissenschaft ist umgekehrt, den festen Boden der Erfahrung nirgends unter den Füßen zu verlieren, und dieser Beschränkung verdankt sie ihre großen Entdeckungen. Die Hilfsmittel der Naturwissenschaft sind die Mathematik und das Experiment (s. d.). Mit der Anwendung der Mathematik beginnt das strenge Wissen über die N., und die verschiedenen Gebiete der Naturforschung nähern sich um so mehr einer wissenschaftlichen Fassung, je mehr es gelingt, mathematisch bestimmte Ausdrücke der Gesetze zu finden. Diese Teile der Naturwissenschaft heißen daher auch vorzugsweise exakte Wissenschaften.

Die Erweiterung der Naturkenntnis ist von der größten Wichtigkeit für die Gestaltung der menschlichen Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Menschen über die N., die Benutzung ihrer Reichtümer für seine Zwecke hängt von der Kenntnis der Naturgesetze ab. Die Ergebnisse der Mechanik, der Physik, der Chemie haben für den Ackerbau, die Gewerbe und Künste, die Mittel des Verkehrs u. s. w. eine unermeßliche Wichtigkeit erlangt, und wenn sich die Kultur der Gegenwart über die des Altertums wesentlich erhoben hat, so beruht dies zum größten Teil auf den Erfolgen des Naturstudiums.

Naturalĭa non sunt turpĭa (lat.), "natürliche Dinge sind nicht schimpflich", natürlicher Dinge braucht man sich nicht zu schämen, Grundsatz der Schule der Cyniker.

Naturalĭen (lat.), alle durch Kunst nicht umgeänderte Naturkörper; gewöhnlich versteht man unter N. alle aus der Natur entnommenen Dinge, die für Sammlungen (Naturaliensammlungen, auch Naturalienkabinette oder Naturhistorische Museen genannt) oder zum Studium in zweckentsprechender Weise präpariert und konserviert sind.

Über N. eines Rechtsgeschäfts s. Accidentalien.

Naturalisation (neulat.), die Verleihung der Staatsangehörigkeit an einen Fremden. Das Reichsgesetz vom 1. Juni 1870 nennt nur die Verleihung an einen Ausländer N., die an den Angehörigen eines andern deutschen Einzelstaates Aufnahme. Diese setzt, abgesehen von dem Besitz einer deutschen Staatsangehörigkeit, nur den Nachweis der Niederlassung in dem Staate, wo man um Aufnahme nachsucht, voraus, und außerdem darf keine Möglichkeit der Abweisung aus armen- oder sicherheitspolizeilichen Gründen (§§. 2-5 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. Nov. 1867) entgegenstehen. Ausländern dagegen darf die N. nur erteilt werden, wenn sie 1) nach den Gesetzen ihrer bisherigen Heimat dispositionsfähig sind, es sei denn dieser Mangel durch Zustimmung des Vaters, Vormundes, Kurators ergänzt, 2) einen unbescholtenen Lebenswandel geführt haben, 3) an dem Orte, wo sie sich niederlassen wollen, eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen finden, 4) sich daselbst zu ernähren im stande sind. Unter den gleichen Voraussetzungen können Fremde in den deutschen Schutzgebieten und Eingeborene derselben dortselbst unmittelbar als Deutsche naturalisiert werden. Ein Recht auf N. haben nur Personen, welche die Stellung eines ein Diensteinkommen aus der Reichskasse beziehenden Reichsbeamten im Ausland übernommen haben. Stillschweigend wird N. erteilt durch Anstellung im unmittelbaren oder mittelbaren Staats-, im Kirchen- und Schuldienst. Die Naturalisationsurkunde wirkt vom Zeitpunkte ihrer Aushändigung an und erstreckt sich, sofern nicht eine positive Ausnahme gemacht ist, auf Ehefrau und in väterlicher Gewalt stehende minderjährige Kinder. Art. 41 des Einführungsgesetzes zum Bürgerl. Gesetzbuch für das Deutsche Reich nimmt davon verheiratete und verheiratet gewesene Töchter aus. (S. auch Staatsangehörigkeit.)

Naturalisieren, die Staatsangehörigkeit verleihen. (S. Naturalisation.)

Naturalismus (neulat.), die metaphysische Richtung, die ein höheres Princip über der Natur (Geist, Gott) nicht anerkennt; daher vielfach gleich Materialismus, etwa mit dem Unterschied, daß der Naturalist nicht genötigt ist, ein geistiges Princip in der Natur (nur nicht getrennt von ihr) zu leugnen.