Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

675

Rechtsphilosophie

ihrer Aufgabe wie der sittlichen Natur des Menschen und seiner Ziele zu messen, der geschichtlichen Entwicklung der Rechtsinstitute im Leben der verschiedenen Völker nachzuspüren, daraus allgemeine Gesetze abzuleiten und hiernach über die weitere Entwicklung nach den dem Menschengeschlechte gesteckten Zielen nachzudenken. Solche Aufgaben hat sich die R. oder philosophische Rechtslehre zu den verschiedensten Zeiten gestellt.

Plato dachte den Staat als den Menschen im Großen und gliederte in seinem Idealstaate die Menschheit so, wie er sich die psychischen Thätigkeiten des sittlichen Menschen geordnet dachte, derart nämlich, daß die Wissenden die Herrschaft über diejenigen führen sollten, die zur Ausübung der gegebenen Gesetze und zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Gesellschaft thätig sind. Aristoteles war von der Überzeugung durchdrungen, daß der Mensch seine sittlichen Aufgaben nur in der staatlichen Gemeinschaft lösen könne, daß aber diese deshalb von Grund aus und in allen ihren einzelnen Zügen von diesem Gesichtspunkte beherrscht sein müsse. In der Folgezeit nahm das sittliche Bewußtsein der Menschheit bekanntlich ein religiöses Gepräge an, und die Folge davon war, daß auch die philos. Rechtstheorien den Staat als eine Anstalt zur Beförderung der sittlich-religiösen Aufgabe des Menschen anzusehen anfingen. Die Scholastik betrachtete den göttlichen Willen als das oberste Princip auch der staatlichen Gesetzgebung. Dadurch kamen theoretisch wie praktisch die Rechtsinstitutionen in ein Abhängigkeitsverhältnis von den kirchlichen Satzungen, und es war ein natürlicher Rückschlag, daß mit der Renaissance überall das Bestreben hervortrat, die R. von theol. Voraussetzungen unabhängig zu machen.

Zu diesem Zwecke suchte Machiavelli das Recht als einen Ausfluß des nationalen Lebens zu begreifen und Bodinus dasselbe lediglich aus den histor. Verhältnissen zu entwickeln. Auf der andern Seite begannen mit Thomas Morus die bis in die neueste Zeit hinabreichenden Versuche, einen idealen Zustand der Gesellschaft von möglichst natürlicher Bethätigung ihrer Bedürfnisse darzustellen. Wissenschaftlicher gingen diejenigen vor, die dem Recht eine eigene auf sich selbst beruhende und in der Vernunft begründete Geltung zu verschaffen suchten. Anfangs vergriff man sich, wie Gentilis, indem man die Rechtsgesetze aus den allgemeinen Naturgesetzen abzuleiten dachte; Hugo Grotius (s. d.) unterschied das histor. Recht von dem natürlichen Rechte begrifflich, leitete das erstere aus der Willkür der Menschen und dem Verlaufe der Geschichte, das letztere aus der unabänderlichen und ewig gleichen Natur des Menschen ab, stellte aber beiden das göttliche Recht als den in der Offenbarung niedergelegten Ausdruck des göttlichen Willens entgegen. Das Naturrecht, das eigentliche Objekt der R., erklärte Grotius für etwas mit dem Naturzustande des Menschen Gegebenes und den Staat für eine von den Menschen zur bessern Wahrung dieses ihres ursprünglichen Rechts geschlossene Gemeinschaft. Infolgedessen gewöhnte man sich im 17. und 18. Jahrh., das Recht als etwas dem Staatsleben Vorhergehendes und den Staat als ein Mittel zur Wahrung desselben zu betrachten. Von diesem Gesichtspunkte aus entwarf man die Theorie des besten Staates und sprach allen Staatsformen, von denen man meinte, daß sie dem ursprünglichen Recht nicht entsprächen, die Existenzberechtigung ab. So nahm die R. den bestehenden Staatseinrichtungen gegenüber eine kritische, polemische und schließlich revolutionäre Gestalt an. Dabei machte sich wiederum der Unterschied geltend, daß die einen meinten, der natürliche Zustand der Gesellschaft enthalte eine stete Gefährdung des natürlichen Rechts und müsse deshalb durch die Staatseinrichtungen korrigiert werden. So dachten Hobbes und Spinoza, wenn auch ersterer mit absolutistischen, letzterer mit republikanischen Konsequenzen. Die andern dagegen setzten einen Urzustand der Gesellschaft voraus, in welchem das Naturrecht realisiert gewesen, der aber durch den Verlauf der Geschichte nach allen Seiten zerstört und verzerrt worden und dessen Wiederherstellung die Aufgabe der Zukunft sei. Der typische Vertreter dieser Ansicht ist Rousseau (im «Contrat social», 1762). Allen gemeinsam aber war die Vorstellung, daß der Staat auf Grund der natürlichen Rechte durch eine freie Vereinigung seiner Bürger (einen Vertrag) entstanden sei und deshalb jeden Augenblick neu entstehen könne. Dieser Ansicht huldigten auch Locke und Montesquieu, die bei der Bildung des besten Staates eine Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse befürworteten.

In der deutschen R. hatten namentlich Pufendorf und seine Anhänger die Gedanken des Naturrechts vertreten; Leibniz dagegen betrachtete das Rechtsleben als eine der Stufen zur Realisierung der sittlichen Aufgabe des Menschen. Bei Kant («Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre», Königsb. 1796; 2. Aufl. 1798) durchdrangen sich beide Auffassungen: er suchte zwar die Begriffe der Legalität und der Moralität scharf zu sondern und der Rechtslehre nur die Entwicklung derjenigen Bestimmungen zuzuweisen, die in dem äußerlichen Zusammenhange die Freiheit des Einzelnen neben der aller übrigen gewährleisten. Aber indem er die Realisierung der Freiheit als die höchste Aufgabe der Kulturentwicklung bezeichnete, stellte er das Rechtsleben so sehr unter den sittlichen Gesichtspunkt, daß die spätere deutsche Philosophie wiederum den Staat als die notwendige Form der Bethätigung des sittlichen Lebens der Menschheit zu konstruieren suchte. Fichtes Anschauung vom Wesen des Rechts liegt der psychol. Gedanke zu Grunde, daß das Ich sich seiner selbst überall nur durch Berührung mit dem Ich fremder Individualität und also auch seiner Freiheit nur dadurch bewußt werde, daß es mit seinem eigenen Willen auf den Willens- und Thätigkeitskreis anderer stößt. Herbart erklärt, indem er alle moralischen Erscheinungen auf die Wirksamkeit ästhetischer Gefühle zurückführt, die Rechtsbildung aus dem Mißfallen am Streite. Hegel nennt den Staat geradezu die Realisierung der sittlichen Idee und erblickt in der aufsteigenden Reihe der geschichtlichen Staatsformen die Entwicklung des sittlichen Geistes. In weiten Kreisen brach sich die Ansicht Bahn, daß der Staat nicht ein zufälliges und dem Individuum äußerliches Gebilde, sondern vielmehr sein sittliches Lebenselement sei. Diesem Bestreben, den Staat zum Mittelpunkt des menschlichen Gesellschaftslebens zu machen, kamen die socialistischen Theorien entgegen, die die Lösung aller Schwierigkeiten des Gesellschaftslebens von der staatlichen Gesetzgebung verlangen und für möglich halten. Dadurch wurde für die R. eine Unterordnung unter die allgemeine Gesellschaftswissenschaft angebahnt. (S. Sociologie.) In jüngster Zeit ist die Richtung hervorgetreten, die durch Vergleichung verschiedener gleichzeitiger und