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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Russische Kunst

Verfertiger aller dieser Gegenstände angehörten, so viel ist sicher, daß der alte Slawe und speciell Russe sich ihre Geschmacksrichtung aneignete und daß in jenen Gegenständen schon alle die erwähnten Elemente der spätern R. K. enthalten sind.

Zweiter Zeitraum. Mit den ersten Anfängen des russ. Staatswesens in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. und ganz besonders mit der Annahme des Christentums durch die Großfürstin Olga 955 und ihren Sohn Wladimir 988 tritt die R. K. in ein neues Stadium; sie schafft eine Reihe großartiger Bauwerke, besonders Kirchen, die wohl neue und zwar byzant. Elemente an den Tag legen, aber in der Ausbildung dieser Elemente und insbesondere in ihrem ornamentalen Schmuck die natürliche Fortentwicklung der vorhergehenden Kunstäußerungen bilden. Das älteste, zum Teil erhaltene Denkmal dieses Zeitraums ist die 1037 vom Großfürsten Jaroslaw in Kiew zum Andenken an seinen Sieg über die Petschenegen errichtete Sophienkathedrale. Sie soll durch byzant. Meister nach dem Muster der Sophienkirche in Konstantinopel erbaut worden sein. Aus ältester Zeit stammen jedoch nur ihre mit Mosaikbildern und Fresken bedeckten Altarwände, aus neun Apsiden bestehend. Welcher Art die ursprüngliche Anlage dieses Baues war, und besonders welchen Charakter die Kuppel oder die Kuppeln hatten, ist heute nicht mehr zu ermitteln. Der gegenwärtige Bau stammt meist aus dem 17. Jahrh. und trägt den ausgebildeten russ. Stil dieser Zeit an sich. Den bedeutendsten Kunstschmuck dieser Kirche bildet das kolossale Mosaikbild der segnenden Mutter Gottes. Sowohl der reiche Goldgrund als die langgestreckten Formen der Gestalt und Kleidung, die Arme und Hände und schließlich der steife, aber würdevolle und erhabene Ausdruck des Gesichts zeugen von byzant. Abkunft dieses ältesten Bildes auf russ. Boden. Im 11. Jahrh. wurden in Kiew noch andere Bauten errichtet, wie das älteste Kloster Rußlands, die Kiewo-Peschtscherskaja Lawra, das Michaelskloster u. s. w.; aber ihr gegenwärtiger Zustand hat nichts mehr gemein mit den ursprünglichen Bauten, die diesen Namen trugen, und giebt daher keinen Begriff von den ersten Versuchen der Russen, sich den byzant. Stil in selbständiger Weise anzueignen. Dasselbe bezieht sich zum größten Teil auf die Bauten Nowgorods. Zu den wichtigsten erhaltenen Denkmälern selbständiger Umgestaltung des byzant. Stils in Rußland gehören die Kirchen in Wladimir und in dessen Umgegend. Sie entstanden hier, seit der Großfürst von Susdal, Andreas Bogolubski, die Hauptstadt von Kiew nach Wladimir verlegte (1169), und nachdem auch die kiewschen Metropoliten ihren Sitz in dieser neuen Hauptstadt nahmen. Schon 1129 wurden hier die Georgs- und 1160 die Verklärungskirche errichtet, doch bieten sie heute wenig Bemerkenswertes. Dagegen haben eine kunsthistor. Bedeutung sowohl die in der Nähe von Bogoljubow im Wladimirschen Gouvernement erbaute Pokrowsche Kirche aus der Mitte des 12. Jahrh., als auch die Kathedrale des heil. Demetrius in Wladimir vom Ende desselben Jahrhunderts (s. Taf. II, Fig. 1). Neben der byzant. Anlage des Grundplans zeichnen sich diese Bauten durch eine originelle, sonst im byzant. Stil nicht übliche Ornamentation der äußern Wände aus. Besonders charakteristisch ist in dieser Beziehung die letztgenannte Kirche. Jede ihrer vier Wände ist von oben bis unten durch leichte, dünne Säulen in drei Teile geteilt, welche oben in Halbkreise auslaufen. Jeder dieser langgestreckten Teile zerfällt wiederum in eine obere und eine untere Hälfte infolge eines Karnieses, der sich zwischen den leichten Hauptsäulen hinzieht und durch eine Reihe zarter, durch Bogen verbundener, auf Tragsteinen ruhender und im obern Viertel der untern Wandhälfte sich hinziehender kleiner Säulen gestützt wird. Unter der Linie dieser Säulen befindet sich im mittlern Teil der vordern Hauptwand die Eingangsthür, die durch auf leichten Säulen ruhende Bogen geschmückt wird. Von beiden Seiten sind in den andern untern Teilen kleine schmale Fenster angebracht. In den drei Teilen der obern Hälfte aller vier Wandseiten sieht man ebenfalls drei schmale, langgedehnte Fenster. Ferner bedeckte man an den äußern Wänden die großen freien Flächen, die in jedem Teile die Fenster umgeben, mit Basreliefs, die zusammen ein ebenso leichtes als phantastisches Ornament der Wände bilden. Es besteht aus einer eigentümlichen Verflechtung gewundener Pflanzen mit Blumen und Blättern, menschlichen Figuren und Tieren, darunter Löwen, Kentauren, Hirsche, Vögel, Greife u. s. w. Vergleicht man diese Ornamentik mit den oben erwähnten Verzierungen an barbarischen Arbeiten, die in den Gräbern Südrußlands gefunden wurden, so kann man ihre typische Übereinstimmung nicht bezweifeln. Dieser Stil unterliegt jedoch sehr bald in Moskau einer eigentümlichen Fortentwicklung, die zugleich eine weitere Umgestaltung des byzant. Stils nach sich zieht. Die ältesten Bauten Moskaus fallen in das 14. Jahrh., wo Moskau durch den Großfürsten Iwan Danilowitsch von Wladimir zur Hauptstadt erhoben und Sitz eines Metropoliten wurde (1328). Doch ist aus jener Zeit wenig erhalten. Im Kirchenbau wurde die ursprüngliche Centralkuppel von vier kleinern Kuppeln umgeben, welche die vier Evangelisten, die sich um Christus scharen, darstellen sollten. Ferner erhielten sie schon im 14. Jahrh. eine zwiebelartige, bauschige Form und wurden auf einen cylindrischen Unterbau aufgesetzt. Dieser Moskauer Stil verbreitete sich seit dem 15. Jahrh. über die meisten russ. Städte mit Einschluß von Kiew und Nowgorod, und wurde später, ungefähr seit der Mitte des 17. Jahrh., mustergültig für ganz Rußland, unter Vernachlässigung der Entwicklung, welcher dieser Stil noch im Laufe des 16. Jahrh. unterlag. In diesem Moskauer Stil wurden die Hauptkirchen Moskaus im 14. und 15. Jahrh. errichtet. So besonders die Kirchen des Kreml (s. Taf. II, Fig. 8): die Maria-Himmelfahrts-Kathedrale, in der die Kaiserkrönungen stattfinden, die Erzengel-Michael-Kathedrale und viele andere. Neben diesem Moskauer Stil wirkte jedoch der orient. Einfluß fort und bot der Phantasie der Architekten ein reiches Feld, besonders durch Vermehrung der Zahl der Kuppeln und ihre vielartige Gestaltung, ferner durch Anbauten von Glockentürmen und Vorhallen, die wiederum durch phantastische Oberbauten in der Art ind. Pagoden u. s. w. geschmückt wurden. Ein charakteristisches Bild dieser phantastischen Bauthätigkeit bietet die zum Andenken an die Eroberung von Kasan (1552) von Iwan IV. dem Schrecklichen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. erbaute Basiliuskathedrale in Moskau (s. Taf. II, Fig. 7). Es ist dies eine Verschmelzung der verschiedensten Bau- und Ornamentmotive des Orients und Occidents, des ind., pers., byzant., roman. Stils. Keine der dreizehn Kuppeln und Türme dieser Kirche gleicht der andern; jede erhebt sich eigenartig neben