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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Russische Litteratur

wesen sein muß, haben die noch heute gesungenen Bylinen (s. d.) einzelne Namen aus alter Zeit erhalten; inwieweit die Stoffe der heutigen Heldenlieder in ältere Zeit zurückreichen, muß vorläufig dahingestellt bleiben.

Die Mongolenherrschaft (13. bis 15. Jahrh.) machte der gemeinsamen russ. Litteraturentwicklung ein Ende. Süd- und Westrußland fielen an Litauen und mit diesem an Polen. Im großruss. Nordosten übernahm Moskau die politische und später, nicht zum Vorteil der geistigen Entwicklung, auch die geistige Führung. Kiew verlor allmählich seine alte Bedeutung als orthodox-wissenschaftliches Centrum. Der Bildungszustand in Großrußland war traurig. Die Weltgeistlichkeit und die Laien, selbst der höchsten Kreise, versanken bei dem Mangel an Schulen in Unwissenheit; die Klöster vertraten durch Aufbewahren und Abschreiben der alten Handschriften in gewissem Grade die gelehrten Überlieferungen, aber mit den zahllosen Klostergründungen im 14. und besonders 15. Jahrh. wurden auch sie mit wenigen Ausnahmen zu Stätten der Zuchtlosigkeit und Ignoranz; die Verderbnis der abgeschriebenen (später der gedruckten) kirchlichen Bücher wurde eine unglaubliche. Das Sektenwesen mit allen möglichen Ausschreitungen durchdrang alle Stände bis zur Zarenfamilie hinauf. - In der Litteratur waren zu den südruss. Städtechroniken die der nordruss. Städte getreten. Mitte des 14. Jahrh. bildete sich die Chronik des Fürstentums Moskau mit besonderer Hervorhebung moskowitischer Ereignisse. Die Legende erhielt neue Heilige in nordruss. Asceten und Märtyrern. In Predigt und Hirtenbrief kommen als neue Motive die Auffassung des Mongolenjochs als Strafe Gottes, die Mahnungen an die Fürsten zu Einigkeit und Kampf gegen die Tataren. Das Sektenwesen, die Zuchtlosigkeit der Klöster, die Unwissenheit der Geistlichen gaben zu Streitschriften Veranlassung. Der Erzbischof Gennadius, ein eifriger Ketzerverfolger, veranstaltete die erste vollständige russ. Sammlung der kanonischen Bücher der Bibel als Waffe gegen die bibelkundigen Sektirer (die sog. Synodalbibelhandschrift, 1499). Derselbe suchte, wenn auch erfolglos, die Errichtung von Priesterschulen zu erlangen. Die Unterhaltungslitteratur wurde bereichert durch eine Anzahl volkstümlicher histor. Erzählungen, unter denen die "Schlacht gegen Mamaj" (auf dem Kulikowofelde, 1380) besonders beliebt war. Im 15. Jahrh. begannen westeurop. Werke (Volksbücher u. dgl.) durch poln. Vermittelung aufzutauchen.

Anfang des 16. Jahrh. erreichte der Bildungsverfall seinen Höhepunkt. Die Bestrebungen einer sich um den gelehrten Griechen Maxim (1480-1556) scharenden Minderheit hatten wenig Erfolg. Auf der durch Johann IV. 1551 einberufenen "Hundertkapitelsynode" ward die Einrichtung von Schulen beschlossen, blieb aber unausgeführt. Ebenso erfolglos blieb die Einführung der Buchdruckerkunst. Nach kaum einjähriger Thätigkeit mußte die Druckerei 1565 vor der Volkswut nach Litauen gerettet werden. 1568 wurde sie wiederhergestellt, aber bis ins 17. Jahrh. blieb das Abschreiben die übliche Vervielfältigung. Von geistlichen Werken des 16. Jahrh. ist zu erwähnen die große zwölfbändige Sammlung von 1300 Heiligenleben, die sog. "Četji-Minei" des Metropoliten Makarius sowie der dem Beichtvater des Zaren, Sylvester, zugeschriebene "Domostroj" (s. d.), eine Encyklopädie altruss. Lebensweisheit. Unter den weltlichen Schriftstellern ragen hervor der Zar Iwan IV. der Schreckliche und der Schüler des Griechen Maxim, Fürst Andrej Michajlowitsch Kurbskij. Der Zar schrieb eine Antwort auf die Klagen des Abts vom Cyrilluskloster auf Bjelosero über zwei dorthin verbannte Bojaren, in der der Mönchswandel der beiden ironisch mit dem alten Klosterleben verglichen wird. Interessant ist auch der Briefwechsel zwischen Iwan und dem Fürsten Kurbskij, seinem frühern Liebling, der zu den Polen geflohen war. Außer den Briefen schrieb Kurbskij eine höchst beachtenswerte Geschichte Iwans IV. bis 1578 sowie verschiedene Übersetzungen. - Die Geschichtschreibung des 16. Jahrh. erhält eine neue Form im sog. "Stufenbuch" ("Stepennaja kniga", Mitte 16. Jahrh.), in dem die russ. Geschichte in einer Folge von 20 durch die Fürstengeschlechter von Rurik bis Iwan IV. gebildeten Stufen in absteigender Linie behandelt wird. - Im Gegensatz zu Südwestrußland (s. Kleinrussische Litteratur) blieben Moskau und der Nordosten bis Ende des 17. Jahrh. gänzlich von aller Kultur abgeschnitten. Zwar kamen seit Iwan IV. Ausländer ins Land; aber das Volk stand ihnen feindlich gegenüber. Boris Godunow schickte junge Russen zur Ausbildung ins Ausland, sie kamen aber nicht wieder. Der Mangel an Schulen war so groß wie früher. Die Abschriften und Drucke kirchlicher Bücher waren unbrauchbar durch die Unzahl Fehler. Es geschahen vereinzelte Versuche der Abhilfe. 1633 gründete der Patriarch Philaret die sog. Tschudowsche oder griech.-lat. Schule, die erste Lateinschule Moskaus. 1649 ward von einigen Bojaren eine zweite Schule gegründet, deren Lehrer aus Kiew verschriebene südruss. Gelehrte waren. Es fehlte nicht an einzelnen, die die bestehenden Mängel einsahen, wie Kotoschichin in seinem in Schweden geschriebenen Buch "Über Rußland während der Regierung des Alexej Michajlowitsch" (vollendet 1666/67), oder sogar Vorschläge zur Besserung machten, wie der Serbe Jurij Krishanitsch in seiner "Politik"; aber es sind wenige. Die Revision der Kirchenbücher durch den Patriarchen Nikon (s. d., abgeschlossen 1656) rief erbitterten Widerstand hervor. Die Mehrzahl der Geistlichen weigerte sich, den neuen Text anzunehmen; er wurde mit Gewalt mühsam eingeführt, eine große Masse des Volks wendete sich dem Sektenwesen (Raskol) zu.

Die Versuche südrussischer, Ende des 17. Jahrh. nach Moskau berufener Gelehrter, die lat. Scholastik einzuführen, scheiterte am Widerstand der einheimischen Geistlichkeit. Die vom Erzieher des Zaren Feodor, Simeon von Polozk, angeregte Gründung einer geistlichen Akademie zu Moskau kam erst unter der Regentschaft Sophiens zu stande; aber kein Südrusse erhielt die Leitung, sondern die griech. Brüder Lihud. Ausländer kamen scharenweise ins Land und brachten westeurop. Luxus und Bildung mit. In der Geschichtschreibung des 17. Jahrh. herrschte das Stufenbuch weiter. Daneben sind Versuche bemerkbar, die verstreute Annalistik zu einem Ganzen zu vereinigen ("Nikonsche Chronik", das "Zarenbuch" u. s. w.). Durch die Südrussen wurde die Kunstpoesie eingeführt, die sog. viršy in syllabierendem Versmaß, als deren erster Vertreter durch seine Gelegenheitsgedichte und Dramen Simeon von Polozk betrachtet werden darf. 1672 wurde in Moskau vor dem Zaren Alexej das erste Theaterstück aufgeführt, die vom luth. Pastor Gregory nach einem Stück der engl. Komödianten bearbeitete