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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Russische Litteratur

"Esther oder die Aktion vom Artaxerxes", der andere Aufführungen übersetzter Stücke folgten. Vorher war die nordrussische dramat. Kunst auf drei, von Geistlichen in der Oster- und Weihnachtszeit dargestellte kirchliche Spiele beschränkt gewesen. Den deutschen Stücken folgten südruss. Mysterien von Simeon von Polozk und Dimitrij von Rostow. In der Novellistik, die fortfuhr, aus Übersetzungen aus dem Westslawischen zu bestehen, erschienen einzelne originale Dichtungen, die Erzählung von "Sawwa Grudzyn", der Schwank "Schemjakas Urteil", die Gedichte vom "Gericht über den Kaulbars", vom "Unglück" u. s. w.

Peters d. Gr. Reformen bedeuten auch für die Litteratur den Bruch mit der alten Tradition: die vollständige Emancipation von der Kirche. Lehrer in allen Fächern wurden systematisch in großer Anzahl ins Land berufen, junge Russen zu ihrer Ausbildung in Künsten und Wissenschaften ins Ausland geschickt. Schulen, vorläufig Elementar- und Fachschulen zur Ausbildung von Militär- und Civilbeamten wurden gegründet und Adel, Geistlichkeit und Volk gezwungen, ihre Söhne hinzuschicken. Eine reiche Übersetzungslitteratur mannigfaltigsten Inhalts schuf die nötigen Lehrbücher. Aus der bereits vorhandenen Litteratur wurde das Brauchbare neu gedruckt. Bei Aufnahme und Vermittelung westl. Kultur leisteten die in Kiew gebildeten Südrussen gute Dienste. Sie waren die ersten, die ins Ausland geschickt wurden, die ersten, die in den Staatsdienst traten; sie waren thätig als Prediger, Lehrer und Übersetzer und trugen vor allem viel dazu bei, das Mißtrauen gegen die Reformen zu verscheuchen. Denn die Mehrzahl der Russen aller Stände stand denselben feindlich gegenüber. Eine interessante Ausnahme aus den Volkskreisen war der Bürger Possoschkow mit seiner Schrift "Über Armut und Reichtum" (1724), einer Untersuchung über die Lage der verschiedenen Stände und Einrichtungen Rußlands, mit Vorschlägen zur Besserung. Der begeistertste und thätigste unter Peters südruss. Gelehrten war der gelehrte und gewandte Theophan Prokopowitsch (1681-1736, von 1724 an Erzbischof von Nowgorod), ein unbedingter Vertreter der Reform, der in seinem "Geistlichen Reglement" (1720) sogar die Unterstellung der russ. Kirche unter Staatskontrolle rechtfertigte, und dessen allgemeinverständliche Predigten mehr dazu beitrugen, dem Volk die verhaßten neuen Einrichtungen verständlich zu machen, als die scholastisch-rhetorische Beredsamkeit seines Gegners Stephan Jaworskij (1658-1722) und der übrigen offiziellen geistlichen Panegyriker der Reform.

Zur Rechtfertigung der russ. Politik den westeurop. Staaten gegenüber dienten Flugschriften, wie z. B. Schafirows Schrift über die Ursachen des Krieges gegen Karl XII. (1717). Außerdem ist die Zeit reich an Memoiren, Autobiographien und Reisebeschreibungen. Die ganze Litteraturperiode trägt den Stempel des Utilitarismus. Die schöne Litteratur wurde vorläufig nur durch die alte, syllabierende Dichtung vertreten, deren ebenfalls praktischer Zweck in der offiziellen Verherrlichung der Siege Peters bestand. Auch die Bühne diente praktischen Zwecken. 1702 wurde aus Danzig der Theaterdirektor Joh. Kunst mit seiner Truppe verschrieben, der russ. Schauspieler bilden sollte. Sein Repertoire wurde ins Russische übersetzt, daneben mußte er für Stücke sorgen, die die Siege der Russen allegorisch darstellten. Die volkstümlichen Interludien des alten Schuldramas dienten dazu, die Feinde der Reformen und Anhänger des Alten zu verspotten.

Unter den Nachfolgern Peters bis zu Elisabeth trat unter dem Einfluß der deutschen Partei eine Reaktion gegen die Reformen Peters und gegen jede freie geistige Richtung ein. Die von Peter gegründete, aber erst nach seinem Tode eröffnete Akademie, mit der ein Gymnasium und eine Universität verbunden werden sollte, that wenig zur Hebung der russ. Bildung; sie bestand aus Ausländern und verfolgte selbstverständlich mehr wissenschaftliche als pädagogische Zwecke. In der R. L. dieser Zeit vertraten zwei Schriftsteller, beide aus dem Kreise Prokopowitschs, die Reformideen Peters, der vielseitige Staatsmann, Ingenieur, Geograph und Historiker Tatischtschew (1686-1750) und der Satiriker Kantemir (1708-44). Zum Vorbild der russ. Poesie ward allmählich der franz. Pseudoklassicismus, dessen Theorie den Russen durch den als Dichter unbedeutenden, aber wissenschaftlich tüchtigen Wassilij Tredjakowskij (1703-69) zugänglich gemacht wurde. Der franz. Einfluß gelangte zu vollständiger Entwicklung unter der Regierung der Kaiserin Elisabeth (1741-62). Ein regeres geistiges Leben machte sich bemerkbar. Die deutsche Partei verlor ihren Einfluß, die Ideen Peters d. Gr. gelangten wieder zur Geltung; das Unterrichtswesen ward besser. Außer wenigen Gymnasien wurden die Moskauer Universität und die Petersburger Kunstakademie eröffnet. Den Russen wurde der Eintritt in die Akademie der Wissenschaften erleichtert. Der erste russ. Akademiker und hervorragendste russ. Schriftsteller dieser Periode ist der universelle Mich. Lomonossow (1712-65), der "Vater der russ. Litteratur", zugleich Gelehrter und Dichter. Er wirkte epochemachend durch die Schöpfung einer russ. Litteratursprache, indem er der Anwendung des bisher herrschenden Kirchenslawischen Grenzen setzte, er schuf die russ. Grammatik, er führte das accentuierende Princip endgültig in die Poesie ein, seine Oden blieben das unerreichte Muster einer erhabenen Lyrik bis ins 19. Jahrh. Der Begründer des pseudoklassischen Dramas in Rußland ward Alexander Sumarokow (1718-77). Er war auf allen Gebieten der Dichtkunst thätig, sein eigentliches Feld war jedoch die Satire. Er gab eins der ersten Journale, "Die emsige Biene" (1759), heraus und war der Hauptvertreter der litterar. Kritik, die sich allerdings rein auf die Äußerlichkeiten des Stils beschränkte. Die Thätigkeit der Akademie der Wissenschaften trug viel dazu bei, das wissenschaftliche Interesse zu wecken. Besonders wichtig war der Beginn einer streng wissenschaftlichen Erforschung der russ. Geschichte (S. Bayer, G. F. Müller, vor allen A. L. Schlözer), Sammlung und Herausgabe histor. Quellen. Wissenschaftliche Expeditionen zur Erforschung Rußlands wurden entsandt. Endlich gab G. F. Müller im Auftrag der Akademie die erste litterar. Revue, die "Monatlichen Schriften" heraus.

Die Zeit Katharinas II. wird das "goldene Zeitalter der R. L." genannt. Die pseudoklassische Richtung dauerte fort. Die Litteratur erhielt durch die franz. Aufklärungslitteratur neuen Inhalt und eine vorwiegend pädagogische Tendenz. Katharina selbst schrieb pädagogische Schriften, Kinderbücher, satir. Lustspiele und Zeitungsartikel gegen die schlechte Kindererziehung und Nachäfferei der Fran-^[folgende Seite]