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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Russische Litteratur

zosen. Die Satire gelangte zu großer Bedeutung: ihr Organ bildeten die satir. Zeitschriften nach engl. Muster, deren Blütezeit die J. 1769-74 waren, und in denen neben Unwissenheit und Barbarei auch der schwülstige Geschmack in der Poesie, besonders die Ode und die Mittelmäßigkeit der Dichter verspottet wurde. (Die bedeutendsten Zeitschriften sind: "Buntes Allerlei" ["Vsjakaja Vsjačina"], "Der Maler" und "Die Drohne".) In der Lyrik herrschte die Ode fort. Sie erhielt durch den größten Dichter der Epoche, Gabriel Derschawin (1743-1816), eine neue, anmutigere, stellenweise satirisch gefärbte Sprache. Im Drama herrschte bis in die siebziger Jahre unbestritten der Pseudoklassicismus. Das Repertoire beherrschte Sumarokow, später der weniger begabte Jakob Knjashnin (1742-91). Neben Originalen wurden viele Übersetzungen gegeben. In den siebziger und achtziger Jahren wurden fast alle Werke der franz. Klassiker übersetzt. Auch die Tragödie zeigte eine hervorragend belehrende Tendenz; nicht weniger das Lustspiel. Der bedeutendste Satiriker der Periode, Denis Von-Wisin (1744-92), verspottete in seinen klassischen Lustspielen "Der Brigadier" (1764) und "Der Landjunker" (1782) die Unbildung des niedern Adels, die Halbbildung und Französelei der im Ausland gewesenen jungen Russen, die schlechte Kindererziehung. Auch hier traten neben realistisch-komischen Figuren ideale Tugendtypen auf, die weitschweifig Moral predigen. In der Epik galt Mich. Cheraskows (1733-1807) "Rossiade" lange als Muster. Aber gegen Ende des Jahrhunderts fing der Geschmack am pseudoklassischen Epos an nachzulassen, es traten Travestien (so z. B. die berühmte kleinruss. Äneide von Kotljarewskij), Parodien und komische Epen auf. Sehr populär wurde die "Psyche" ("Dušen'ka") von Ippolit Bogdanowitsch (1743-1803), eine volkstümliche Bearbeitung von Lafontaines "Psyché et Cupidon". Der Roman weist viel Übersetzungen auf. Beliebt waren die philos.-polit. Romane im Geschmack des Fénelonschen "Télémaque", die in Charaskow einen Nachahmer fanden ("Numa oder das blühende Rom", "Polydor" u. a.). Daneben wurden Abenteuerromane mit und ohne moralische Tendenz viel gelesen. Von Originalen sind erwähnenswert die Werke Fedor Emins (1735-70). Die Fabel, bis dahin durch Sumarokow vertreten, erhielt eine einheimischere Färbung durch Iwan Chemnitzer (1745-84). Die humanitären Bestrebungen der Regierung fanden Nachahmung in Privatkreisen: es entstanden Privatdruckereien und Vereine, die Volksschriften fertigten und verbreiteten. Im Zusammenhang mit dem fußfassenden Freimaurertum bildete sich in Moskau die "Gesellschaft der Freunde", deren Seele der Philanthrop Nik. Nowikow (1744-1816) war, und die durch Vorträge und nützliche Schriften die Volksbildung zu heben suchte. Eins ihrer Hauptziele war die Bekämpfung des franz. Materialismus, gegen den sonst neben den Kanzelrednern schon die satir. Journale aufgetreten waren. Allein die Französische Revolution veranlaßte eine starke Reaktion und die Verfolgung alles dessen, was kurz vorher von der Regierung angeregt worden war. Die Freimaurer wurden verdächtigt, die philanthropischen Vereine aufgehoben, Nowikow eingekerkert. Unter den Opfern der Reaktion befand sich auch Alexander Radischtschew (1749-1802), dessen "Reise von Petersburg nach Moskau" (1790) ihm Verbannung nach Sibirien zuzog.

In den siebziger Jahren trat in der R. L. der "empfindsame" (sentimentale) Geschmack auf. An Stelle der pseudoklassischen Tragödie, des heroischen Romans trat das bürgerliche Rührstück, der bürgerliche Roman. Der franz. Einfluß wich dem englischen und deutschen. Ungefähr gleichzeitig erwachte das Interesse für nationales Leben und die heimische Vorzeit. Histor. und sprachliche Denkmäler wurden gesammelt, Volksbücher wieder abgedruckt u. s. w. In der Poesie erschienen Stoffe aus dem Volksleben, wie z. B. die mit Volksliedern und -Tänzen durchwebte komische Oper Ablessimows "Der Müller". Der Hauptvertreter des sentimentalen Geschmacks war Nik. Karamsin (1766-1826), dessen "Briefe eines russ. Reisenden" und die Novelle "Die arme Lisa" die Muster der neuen Richtung wurden.

Die Wissenschaft zeigte unter Katharina ein Überwiegen von russischen, ausländisch gebildeten Gelehrten. 1783 ward die russ. Akademie gegründet zur "Reinigung und Bereicherung der russ. Sprache", deren Präsident die hochgebildete Fürstin Katharina Daschkow (1743-1810) ward. Von histor. Werken ist M. Schtscherbatows "Russ. Geschichte von den ältesten Zeiten an" (in altruss.-patriotischem Sinne) und dessen "Geschichte Peters d. Gr." sowie seines Gegners Iw. Boltins ebenfalls mit reformfeindlicher Tendenz geschriebene "Bemerkungen zur alten und neuen russ. Geschichte Leclerqs" und "Bemerkungen über Schtscherbatows russ. Geschichte" zu erwähnen. Ferner zahlreiche Memoiren (der Fürstin Daschkow, Chrapowizkijs, Derschawins u. a.). Von lexikalischen Arbeiten ist wichtig das "Wörterbuch der russ. Sprache" der Akademie, von literarhistorischen Nowikows "Histor. Schriftstellerlexikon" und das anonyme "Dramat. Lexikon". Auf dem Gebiet der bis dahin rein formalen Kritik traten als ästhetische Neuerer auf: Mich. Murawjew (1757-1807) und der junge Karamsin.

Die Litteratur des Beginns der Regierung Alexanders I. zeigte den Kampf des absterbenden Pseudoklassicismus gegen die neuen Richtungen, die empfindsame und später die romantische. Das erste Viertel des 19. Jahrh. stand unter dem Einfluß Karamsins. Sein großes Verdienst war die Schöpfung einer ungekünstelten Litteratursprache und die Einführung eines natürlichern litterar. Geschmacks. Seine monumentale "Geschichte des Russischen Reichs" beeinflußte auf lange Zeit sowohl die Auffassung der Geschichte als auch den Stil der getragenen Prosa. Was Karamsin für die Prosa, das ward Iwan Dmitrijew (1760-1837) für die Poesie. Fast alle bedeutenden Schriftsteller der Zeit Alexanders I. sind mehr oder weniger Nachfolger Karamsins und Dmitrijews. Es fehlte jedoch nicht an Gegnern. Die antisentimentale konservative Richtung scharte sich um den Präsidenten der Russischen Akademie, Admiral Schischkow (1754-1840), einen eifrigen Verteidiger des Altrussischen und der frühern Verhältnisse. Doch fand die sentimentale Richtung ihr Ende erst in den zwanziger Jahren. Mit den Napoleonischen Kriegen zeigte sich von 1806 an auch in der Litteratur eine starke antifranz. Strömung. Es erschienen Flugblätter, patriotische Gedichte (Derschawin, Shukowskij), Lustspiele und ernste Stücke (Oserows "Dimitrij Donskoj"), die Gallomanie wurde verspottet (Krylow, Graf Rostoptschin). Sergej Glinkas "Russ. Bote" und seine zahlreichen andern Schriften predigten Krieg und verherrlichten Rußlands ruhmvolle Vergangenheit.