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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Rußland (Geschichte 1825-55)

Tschetschenzen, zu unterwerfen; doch fand es heftigen Widerstand in der Thätigkeit Schamyls (s. d.).

Im Innern R.s trug unter Kaiser Nikolaus I. alles das Gepräge des strengsten militär. Absolutismus. In diesem Sinne wurde die militär. Kraft des Staates mächtig gesteigert, der Unterricht uniformiert, das System der polizeilichen Gewalt, der genauesten Überwachung, der Absperrung gegen das Ausland aufs eifrigste ausgebildet. Das Streben, die verschiedenen Nationalitäten des Reichs zu russifizieren, gab sich nicht allein in dem Verfahren gegen Polen kund, sondern auch in dem, was in den Ostseeprovinzen geschah, und in den neuen Organisationen, denen 1836 die Kalmücken und Donischen Kosaken unterzogen wurden. Die Juden wurden massenweise gewaltsam aus den Grenzprovinzen in das Innere R.s verpflanzt. Die Hebung des Ackerbaues, die Bildung von Handelsgesellschaften, die Förderung einzelner Zweige der Industrie, die Begünstigung der Dampfschiffahrt, die ersten Eisenbahnbauten und ähnliches, wobei man die Mitwirkung fremder Kräfte nicht entbehren konnte, waren Zugeständnisse an die Überlegenheit der abendländ. Civilisation. Unter den Versuchen, die innere Gleichheit und Einheit herzustellen, erregten am meisten Aufsehen die Maßregeln auf religiösem Gebiet, durch welche alle christl. Konfessionen und die Juden bedroht waren. Durch Ukase vom 5. Juli und 19. Okt. 1831 wurde in Polen der Bau neuer kath. Kirchen verboten und bald darauf eine Anzahl kath. Kirchen dem griech. Kultus zugewiesen. Zu gleicher Zeit trat eine strengere Praxis bei gemischten Ehen ein. Mit einem einzigen Akte wurden 1839 3-4 Mill. unierter griech. Christen der orthodoxen russ. Kirche einverleibt. Doch gelang es selbst den äußersten Gewaltmaßregeln nicht, den Widerstand der Unierten zu brechen. Sodann ward durch einen Ukas die griech. wie die röm. Geistlichkeit ihres Grundvermögens beraubt und durch Staatszuschüsse abgefunden. Diese Eingriffe verursachten Konflikte mit Papst Gregor XVI., welche bei einer Zusammenkunft des Kaisers mit dem Papst in Rom (13. Dez. 1845) beseitigt wurden. Auch die prot. Kirche in den Ostseeprovinzen hatte unter demselben System zu leiden. 1841 begann durch Täuschungen und Vorgaukelung materieller Vorteile eine griech.-orthodoxe Propaganda in Livland, der in einigen Jahren gegen 100000 Bauern zum Opfer fielen. Bereits 1832 war den Ostseeprovinzen trotz der ihnen von Peter d. Gr. zugesicherten Gewissensfreiheit das russ. Gesetz aufgezwungen, das den Austritt aus der griech. Kirche unter Androhung schwerer Strafen verbietet und Kinder aus gemischten Ehen unbedingt der griech. Kirche zuspricht. Die kirchliche Propaganda ward überhaupt als das wichtigste Mittel der nationalen Umschmelzung betrachtet. Auch in die Verhältnisse der Leibeigenschaft wurden Eingriffe gemacht: die Leibeigenen durften Güter ihrer Grundherren bei der Zwangsversteigerung erstehen und überhaupt Grundbesitzer werden.

Bei dem 1839 von neuem ausgebrochenen Krieg zwischen der Pforte und dem Vicekönig von Ägypten verständigte sich R. mit dem brit. Kabinett und half den Julivertrag von 1840 abschließen, wodurch Frankreich isoliert und die orient. Verwicklung im Sinne der verbündeten vier Großmächte geschlichtet ward. Der Krieg im Kaukasus, wo 1845-54 Fürst Woronzow kommandierte, dauerte in derselben Weise wie früher mit sehr wechselndem Erfolge fort. Ein neuer Polenaufstand, der über das preuß., österr. und russ. Polen verzweigt war, wurde frühzeitig entdeckt und verlief 1846 in vereinzelte Ausbrüche. Von den Folgen der franz. Februarrevolution 1848 blieb zwar R. ziemlich unberührt, aber für die Ruhe in Polen mußte immer gefürchtet werden. Den deutschen Interessen trat R. nach Kräften entgegen, namentlich in der schlesw.-holstein. Sache. Die Unruhen in der Walachei gaben dem Kaiser Nikolaus Veranlassung, im Einverständnis mit der Pforte die Donaufürstentümer zu besetzen (Sommer 1848) und den vorteilhaften Vertrag von Balta-Limani (1. Mai 1849) zu erlangen, wodurch unter anderm für die nächsten sieben Jahre den Russen wie den Türken gestattet wurde, im Falle einer Bewegung sofort einzurücken. Kurz darauf errang die russ. Politik einen nicht minder bedeutsamen Triumph. Österreich war nicht im stande, die aufständischen Magyaren niederzuwerfen, und bat um russ. Hilfe. Schon im Dez. 1848 war eine Abteilung Russen in Siebenbürgen eingerückt; jetzt, nach Abschluß eines förmlichen russ.-österr. Bündnisses, setzte sich Mai 1849 Fürst Paskewitsch in Bewegung, um den erschöpften Streitkräften der Magyaren den letzten Stoß zu geben. Bei Világos 13. Aug. 1849 streckte Görgey vor den Russen die Waffen. Das Zerwürfnis zwischen Österreich und Preußen gab dem Kaiser Nikolaus Gelegenheit, zu Warschau Juni und Okt. 1850 als Schiedsrichter zwischen beiden Mächten aufzutreten und für die Wiederherstellung des Deutschen Bundestags zu wirken. In der schlesw.-holstein. Frage unterstützte R. entschieden die Ansprüche Dänemarks, und die russ. Diplomatie brachte endlich das Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852 zu stande, wodurch die Erbfolge im dän. Gesamtstaate dem Prinzen Christian von Glücksburg zugesprochen wurde. Diese Erfolge bezeichneten den Höhepunkt des russ. Einflusses. Als in Frankreich die Republik beseitigt und im Widerspruch mit den Verträgen von 1814 und 1815 das Kaisertum in der Person Napoleons III. wiederhergestellt wurde, versuchte Kaiser Nikolaus vergeblich Österreich und Preußen zu einem gemeinsamen Schritte gegen dasselbe zu bewegen.

Bei dieser übermächtigen Stellung R.s in Europa hielt Kaiser Nikolaus den Augenblick für geeignet, im Orient rascher und unverhüllter den Zielen der russ. Politik entgegenzugehen. Auf Andrängen des franz. Gesandten Lavalette hatte die Pforte 8. Febr. 1852 den lat. Christen rücksichtlich der Heiligen Stätten in Jerusalem Konzessionen gemacht, indem sie die Schlüssel zur Kirche in Bethlehem dem griech. Patriarchen abnahm und dem katholischen übergab, wodurch die griech. Kirche sich als zurückgesetzt ansah. Damals that Österreich einen entscheidenden Schritt, um seinen Einfluß in Konstantinopel wiederherzustellen, indem es aus Anlaß der Wirren in Montenegro u. s. w. verschiedene Forderungen bei der Pforte geltend machte, die auch sofort Febr. 1853 gewährt wurden. Um so mehr fühlte Kaiser Nikolaus sich gedrängt, diese Erfolge Österreichs und Frankreichs durch eine unzweifelhafte Demütigung der Türkei zu verdunkeln. Seine Pläne gingen aber noch weiter: er ließ der brit. Regierung durch ihren Gesandten in Petersburg, Sir Hamilton Seymour, einen Vorschlag über die Teilung des Osmanischen Reichs machen. Der Beihilfe Preußens und Österreichs glaubte er auf alle Fälle sicher zu sein; Frankreich aber sollte wie 1840 isoliert werden und ganz leer ausgehen. Nach längern Verhand-^[folgende Seite]