Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

105

Rußland (Geschichte 1881 bis zur Gegenwart)

lands in einen starken Kriegshafen umgewandelt. Zu einem zweiten Kriegshafen wurde Sewastopol ausersehen, während der Handelshafen 1893 von dort nach Feodosia verlegt wurde. Die Erbauung der Transkaspibahn zunächst bis Merw und später bis Samarkand sollte in erster Linie der Verstärkung der russ. Machtstellung im innern Asien dienen. In den Kreisen der Bevölkerung, welche allmählich auf Alexander III. den größten Einfluß gewannen, zeigte man den Haß gegen Deutschland und die Sympathien für Frankreich immer ungescheuter. Im Nov. 1890 kam eine Anleihe R.s von 400 Mill. bei der Pariser Bank zu stande. 1891 scheiterte aber eine Französische Ausstellung in Moskau wegen mangelhaften Besuchs und Okt. 1891 der Versuch einer neuen Anleihe in Paris von 500 Mill. Frs. Das war um so auffallender, als im Juli die franz. Flotte bei einem Besuch Kronstadts mit den größten Ehrenbezeigungen vom Zaren und von der Bevölkerung aufgenommen worden war. 1893 erwiderte die aus Amerika von der Ausstellung zurückkehrende russ. Flotte den Kronstädter Besuch in Toulon, welches Ereignis die Zeichnung einer russ. Anleihe von 200 Mill. in Frankreich beschleunigte. Anfang 1894 kam es aber wieder zu gereizten Verhandlungen wegen der Erhöhung des Getreidezolles in Frankreich.

Der bei weitem wichtigste Zweig der wirtschaftlichen Thätigkeit in R., der Ackerbau, hat sich infolge des unvermittelten Überganges der Masse des Volks aus der Leibeigenschaft zu weitestgehender Unabhängigkeit in der Privat- und Gemeindewirtschaft während der letzten Jahrzehnte nicht gehoben; es zeigte sich vielmehr trotz der unerschöpflichen natürlichen Hilfsquellen R.s ein Rückgang der Landwirtschaft, der sich besonders in den sich stetig mehrenden massenhaften Konkursen von Gütern und bäuerlichen Stellen offenbarte. Zu diesen Mißständen traten in den J. 1884 und 1885 noch mangelhafte Ernteerträge und ein Rückgang der Kornpreise sowie Kornausfuhr. Infolgedessen hatte das russ. Budget mit ständigen Deficits zu kämpfen. Als im Jan. 1887 Wyschnegradskij das Ressort des Finanzministers Bunge erhielt, richtete dieser sein Hauptstreben auf die Beseitigung des Deficits, die ihm vorübergehend gelang. Teils als Finanzquelle, teils als Mittel zur Hebung der inländischen Industrie wurden hohe Schutzzölle eingeführt, mit denen Wyschnegradskij R. gegen den Westen, vor allem gegen Deutschland abschloß. Da sowohl hierin wie auch in dem bald darauf erlassenen Ukas gegen die Ausländer eine offenbare Feindseligkeit gegen Deutschland lag, so antwortete dieses durch Maßregeln, welche den Kurs des Papierrubels unter die Hälfte seines Nominalwertes herabdrückten. Anfang 1891 entstand in vielen Teilen des Reichs eine furchtbare Hungersnot. Daher wurde 28. Juli die Ausfuhr von Roggen verboten. Diese und andere Maßregeln konnten die weitere Verbreitung der Hungersnot nicht hindern, besonders da von den staatlichen und privaten Spenden für die notleidende Bevölkerung viel von den Beamten gestohlen wurde. Zur Verzweiflung getrieben, ergaben sich die Bauern dem Trunk oder bildeten Räuberbanden. Im Kiewschen entstanden jüd. Räuberbanden, worauf Tausende von Juden ausgewiesen wurden. Die Bevölkerung suchte die Behörden in grausamer Verfolgung zu überbieten.

Durch eine kaiserl. Verordnung vom 9. Jan. 1882 wurde bestimmt, daß alle Pachtverhältnisse der Bauern gegenüber den frühern Grundbesitzern bis zum 1. Jan. 1883 gelöst sein müßten. Ein Ukas vom Juni 1882 ordnete die allmähliche Aufhebung der Kopfsteuer an, wodurch die Steuerlast der Bauern bedeutend ermäßigt und zugleich eine gerechtere Steuerbelastung der ganzen Bevölkerung angebahnt werden sollte. Da die bäuerliche Selbstverwaltung sehr im argen lag, wurde von dem Minister des Innern, Grafen Tolstoj, ein Entwurf zu ihrer Reform und zur Einsetzung von Aufsichtsbehörden über ihre Organe ausgearbeitet. Der 1889 fertig gestellte Entwurf hob eigentlich die Selbstverwaltung vollständig auf, indem er ihre Funktionen auf von der Regierung ernannte, nur aus dem Adel entnommene "Bezirkshäupter" übertrug. Deshalb stieß der Entwurf im Reichsrat auf starken Widerstand, wurde jedoch, da er die Zustimmung des Kaisers für sich hatte und im Grunde nur gesetzlich regelte, was trotz der dem Namen nach freien Selbstverwaltung thatsächlich bereits überall bestand, schließlich angenommen. Inzwischen war der Minister des Innern, der starre Bureaukrat und eifrige Orthodoxe Tolstoj, 7. Mai 1889 gestorben. Zu seinem Nachfolger ernannte der Kaiser am 18. Mai den Geheimrat Durnowo und trug demselben auf, streng an den Grundsätzen festzuhalten, die sein Vorgänger nach der Weisung des Kaisers befolgt habe. 1890 wurde die Kinder- und Frauenarbeit gesetzlich beschränkt, Febr. 1892 wurden Gesetze erlassen wegen Unveräußerlichkeit der Bauernländereien und wegen Gründung von Hilfskassen für die Arbeiter an den Staatseisenbahnen. Ferner kam ein Gesetz zu stande wegen Bestrafung des Angriffs eines Teils der Bevölkerung durch den andern, namentlich auch der Anstiftung von religiöser, Rassen- oder Standesfeindschaft. Im Aug. 1892 wurde die Thätigkeit der "Kulaks" (etwa: Wucherer), die in Ausnutzung der Lage des Verkäufers Korn aufzukaufen pflegen, gesetzlich beschränkt. Am 15. Sept. 1892 wurde Wyschnegradskij entlassen und Witte wurde Finanzminister. Das Ergebnis von Wyschnegradskijs sechsjähriger Amtsführung war die Isolierung R.s von der europ. Finanzwelt, die Steuerüberbürdung der verarmten Bevölkerung, die Hemmung des Handelsverkehrs durch den hohen Zoll und die Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Interessen. Unter Witte besserten sich die Finanzen, auch traten bessere Ernten ein.

Unter Alexander II. war das kaiserl. Familiengesetz, welches von ausländischen Prinzessinnen vor der Verheiratung mit einem russ. Großfürsten die Annahme des orthodoxen Glaubens verlangte, durch Dispensationen mehrfach durchbrochen worden. Alexander III. änderte es daher 1886 dahin ab, daß nur die Gemahlin des Kaisers oder des Thronfolgers den orthodoxen Glauben annehmen müsse. Am 21. Juni 1889 dagegen stellte der Zar das alte intolerante Gesetz wieder her. Am 20. April war ein anderes Familiengesetz erlassen worden, das allen Mitgliedern des kaiserl. Hauses das Eingehen morganatischer Ehen verbot.

Um den Nihilismus zu bekämpfen, der sich zum großen Teil aus den Kreisen der Studenten rekrutierte, erließ der Minister der Volksaufklärung Deljanow 10. Mai 1887 mehrere Verordnungen, die dem Zudrang zu den höhern Schulen wehren sollten. Das Schulgeld in den Gymnasien wurde um ein Drittel erhöht, die Schülerzahl beschränkt, Söhne von Angehörigen der niedern Volksklassen sollten nicht