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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Sociale Praxis; Socialer Reichsverein; Socialinstinkte

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Sociale Praxis - Socialinstinkte

die Industrie durch die Maschinentechnik immer großartiger, und die Produktion wurde mehr und mehr eine Weltmarktproduktion. Durch diese ökonomische Entwicklung ergaben sich für den Arbeiter eine Reihe von Gefahren, die früher bei dem Zunftwesen und bei der staatlichen Reglementierung der Gewerbe ganz unbekannt waren. Je nachdem die Industrie in einem Lande zur Entwicklung kam und Gewerbefreiheit eingeführt wurde, traten diese Mißstände zu verschiedenen Zeiten in den verschiedenen Ländern auf; im allgemeinen ist das Ende des 18. und der Anfang des 19. Jahrh. als der Beginn des Auftretens der S. F. in diesem Sinne zu bezeichnen. Als solche Übelstände traten namentlich hervor die durch die Produktion für den Weltmarkt und für unbekannte Absatzkreise bedingte Unsicherheit des Einkommens; eine oft übermäßige Arbeitszeit, besonders wenn die Konjunktur die Ausnutzung der Arbeitskraft vorteilhaft machte; Nachtarbeit und Sonntagsarbeit im Interesse möglichst gesteigerter Produktion; gesundheits- und lebensgefährliche Beschäftigung in Fabriken, schlechte und ungesunde Arbeiterwohnungen, moralische Übelstände durch Zusammenarbeiten von Männern und Frauen in geschlossenen Räumen, große Ausnutzung der Frauen- und Kinderarbeit. - Gegenüber diesen Übelständen treten verschiedene Richtungen auf, die nach ihrer Art diese S. F. lösen oder doch ihrer Lösung näher bringen wollen. Als wichtigste socialpolit. Strömungen seien die folgenden aufgeführt:

1) Die Manchesterrichtung. Diese Partei faßt die Arbeiterfrage wesentlich als Lohnfrage auf, so daß es Aufgabe der Socialpolitik sei, hauptsächlich höhern Lohn zu ermöglichen, dann verschwänden die übrigen Mißstände größtenteils von selbst. Einen Eingriff der Staatsgewalt zu Gunsten der Arbeiterklasse durch Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung halten die wenigen Anhänger der extremsten Richtung dieser Partei nicht für notwendig; mit der Selbsthilfe durch Genossenschaften, Sparkassen, Konsumvereine u.s. w. könnten die Arbeiter auch einen großen Teil der socialen Schwierigkeiten beseitigen.

2) Im geraden Gegensatz zu dieser Richtung, die in der möglichsten Freiheit das Heil erblickt, steht die socialistische Richtung auf dem Standpunkte, daß die auf dem Privateigentum und der freien Konkurrenz beruhende Wirtschaftsordnung überhaupt unfähig sei, in der S. F. irgend etwas Erhebliches zu bessern; diese Mißstände seien eng verknüpft mit der privatkapitalistischen Produktionsweise, nur die Beseitigung des Privateigentums und die Produktion auf dem Boden des gesellschaftlichen Eigentums nach gesellschaftlich geregelten Grundsätzen könnte helfen. (S. Socialismus.)

3) In der Mitte zwischen den beiden Extremen des reinen Individualismus und des Socialismus steht die Richtung der socialen Reform. Ohne daß das Privateigentum negiert wird, wird doch von dieser Partei auch der einseitige Grundsatz des laisser-faire, laisser-aller verpönt; vielmehr müßten Staat und Gesellschaft durch Gesetzgebung und freiwillige Beihilfe den schweren Mißständen, die unzweifelhaft vorhanden seien, entgegentreten. Diese socialreformatorische Richtung, die in allen Ländern vertreten ist, und die je nach Zeit und Ort verschiedene Anforderungen an die Gesetzgebung stellt, ist doch im allgemeinen darin einig, daß besonders durch Arbeitsschutzgesetzgebung, durch Zwangsversicherung, durch staatliche Beaufsichtigung der Fabriken u. s. w. zu Gunsten der Arbeiterklasse eingegriffen werden muß. In Deutschland ist diese Richtung besonders seit Anfang der siebziger Jahre stark ausgebildet; sie hatte zuerst den Spottnamen Kathedersocialismus (s. d.). In der neuern deutschen socialpolit. Gesetzgebung ist diese socialreformatorische Richtung klar zum Ausdruck gekommen. In einzelnen Punkten haben die Anhänger der Socialreform noch viele andere Forderungen aufgestellt; doch herrscht hier nicht in allen Punkten Einigkeit, so in der Empfehlung der Gewerkvereine (s. d.), der Gewinnbeteiligung (s. d.) der Arbeiter und der Arbeitslosigkeitsversicherung (s. d.).

Soweit die Richtung der staatlichen Socialpolitik und Socialreform einen religiösen Charakter hat, betrachten sie die Stärkung der Religiosität als Hauptaufgabe und in zweiter Linie die wirtschaftliche Besserung durch allerlei sociale Reformmaßregeln. Diese Bestrebungen sind in der evang. und auch in der kath. Kirche vorhanden. (S. Socialismus, S. 16.)

Litteratur. Vgl. den Artikel: Die gewerbliche Arbeiterfrage in Schönbergs "Handbuch der polit. Ökonomie" (Tüb. 1891); Herkner, Die Arbeiterfrage (2. Aufl., Berl. 1897); F. Alb. Lange, Die Arbeiterfrage (4. Aufl., Winterth. 1879); Brentano, Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht (Lpz. 1877); Schulze-Gävernitz, Zum socialen Frieden (2 Bde., ebd. 1890); von Schubert-Soldern, Das menschliche Glück und die S. F. (Tüb. 1896); Stein, Die S. F. im Lichte der Philosophie (Stuttg. 1897); die Wochenschrift "Sociale Praxis" (Berl. 1895); Archiv für sociale Gesetzgebung und Statistik, hg. von H. Braun (ebd. 1888 fg.). - Zur Kennzeichnung der Manchester-Richtung dienen: Bamberger, Die Arbeiterfrage (Stuttg. 1873); Schulze-Delitzsch, Kapitel zu einem Deutschen Arbeiter-Katechismus (Lpz. 1863); ders., Die S. F. (Berl. 1869); Prince-Smith, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (ebd. 1877). - Zur Kennzeichnung der socialistischen Partei: Oldenderg, Die Ziele der deutschen Socialdemokratie (Lpz. 1891); Kautsky, Das Erfurter Programm (Nürnb. 1892).- Für die socialreformatorische Richtung: Wagner, Rede über die S. F. (Berl. 1871); Schmoller, über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft (Jena 1875); Die Eisenacher Verhandlungen über die S. F. (in den "Schriften des Vereins für Socialpolitik", Lpz. 1882); Brentano, Arbeitseinstellungen und Fortbildung des Arbeitsvertrags (in den "Schriften des Vereins für Socialpolitik", Lpz. 1890). - Für die evang.-socialen Bestrebungen: Stöcker, Die Bibel und die S. F. (Nürnb. 1891); Naumann, Was heißt christlich-social? (Heft 1, 2. Aufl., Lpz. 1896; Heft 2, ebd. 1896). Für die kath.-socialen: Hitze, Die S. F. (Paderb. 1877).

Sociale Praxis, in Leipzig erscheinende socialpolit. Wochenschrift, seit 1. Okt. 1897 (Redacteur: Ernst Francke) Organ einer Gesellschaft von Männern, die beabsichtigen für die Fortführung der Socialreform auf der Grundlage der kaiserl. Erlasse vom 4. Febr. 1890 öffentlich zu wirken. Die S. P. erschien bisher in Berlin und wurde seit 1895 von J. Jastrow als Neue Folge der "Blätter für sociale Praxis" (1893-95 hg. von Brückner) und des "Socialpolit. Centralblattes" (1892-95 hg. von Braun) herausgegeben, mit der Monatsbeilage "Das Gewerbegericht", Organ des Verbandes deutscher Gewerbegerichte.

Socialer Reichsverein, s. Antisemitismus.

Socialinstinkte, s. Instinkt.