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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Großbritannien und Irland
wieder hervortrat, hatte England durch die Reise
des Prinzen von Wales zur Leichenfeier des Zaren
Alexander III. Ende 1894 in auffallender Weise sich
freundschaftlich an Rußland anzunähern verfucht.
Ein erfreuliches Ereignis im königl. Haufe war
die Geburt eines Urenkels der Königin, eines Soh-
nes des dereinstigen Thronfolgers, Herzogs Georg
von York (23. Juni 1894), der 16. Juli auf dem
Namen Eduard Albert getauft wurde. Weniger er-
freulich waren die Debatten über die Stellung des
Herzogs Alfred von Edinburgh, der 23. Aug. 1893
dem Herzog Ernst II. in Coburg und Gotha nach-
gefolgt war, zwar feine Stellung in der brit. Marine
und im Geheimen Rate der Königin aufgab, aber
von feiner prinzlichen Apanage 10000 Pfd. St. bei-
behalten wollte. In verschiedenen Parlaments-
sessionen im April 1894 und Mai 1895 kam es zu
Anträgen gegen die Fortzahlung dieser Gelder an
einen fremden Souverän, die aber abgelehnt wurden.
Eine besondere Reform plante der Kriegsminister
Campbell-Bannermann im Anfchluß an den für den
im Herbst 1895 bevorstehenden Rücktritt des engl.
Oberstkommandierenden, des Herzogs von Cam-
bridge, vorzunehmen und dabei die ganze obere
Heeresleitung einer Umgestaltung zu unterziehen.
Da aber im Verlauf der Debatte 21. Juni der An-
trag, vom Gehalt des Kriegsministers 100 Pfd. St.
zu streichen, mit 132 gegen 125 Stimmen angenom-
men wurde, so erklärte Lord Rosebery 24. Juni
den Rücktritt des ganzen Ministeriums.
Sofort übernahm Salisbury die Bildung des
neuen Kabinetts, das 26. Juni schon vollständig
war. Das dritte Ministerium Salisburys erhielt da-
durch emc besondere Bedeutung, daß es cntfprechend
der großen Frage, um die bisher der Kampf gegangen
war, alle Unionisten, konservative wie liberale,- in
sich vereinigte. Während die liberalen Unionisten
bisher nach der vom Herzog von Devonshire ausge-
gebenen Parole den konservativen Ministerien nur
"äußern Beistand" geleistet hatten, traten sie jetzt,
wozu besonders Chamberlain gedrängt hatte, in die
Regierung selbst ein. In diesem ersten unionistifchen
Ministerium übernahm Salisbury die Premierwürde
und das Auswärtige, Devonshire die Präsidentschaft
des Geheimen Rates, Arthur Balfour wurde erster
Schatzlord und Führer des Unterhauses, Chamber-
lain Sekretär für die Kolonien, Hicks-Beach Kanzler
der Schatzkammer, Gofchen erster Admiralitätslord,
Lord Halsbury Lordkanzler, Viscount Croß Lord-
fiegelbcwahrcr, Sir White Ridley Staatssekretär
des Innern, Marquis von Landsdowne Staats-
sekretär für Krieg, Lord Hamilton für Indien,
Ritchie Präsident des Handelsamtes, Chaplin der
Lokalverwaltung, Earl Cadogan Lordlieutenant
von Irland, Lord Ashburne Lordkanzler von Ir-
land, Gerald Balfour Sekretär für Schottland.
Am 9. Juli wurde das Unterhaus aufgelöst, vom
21. bis 29. dauerten die Neuwahlen. Während die
Liberalen ihrer bisherigen Taktik entsprechend den
Kampf gegen das Oberhaus in den Vordergrund
der Wahlen zu schieben suchten, blieb trotzdem die
große Frage der Reichseinheit oder der Neichs-
trennung, wie sie schon in der Zusammensetzung des
Ministeriums ihren Ausdruck gefunden, für die
Wahlen maßgebend. Die Entscheidung siel mit einer
geradezu unerhörten Mehrheit für die Unionisten
(s. oben, Staatliches Leben).
Die Wahlen und ihr Ausfall hatten ihre besondere
verfafsungsgeschichtliche Bedeutung. Seit der Demo-
kratisierung des engl. Unterhauses durch die Reform-
bills ls. d., Bd. 13) hatte sich wie bei den demo-
kratischen festländischen Parlamenten eine wachsende
Auflösung der Parteiverbünde und vermehrte parla-
mentarische Gruppenbildung gezeigt. Jetzt war es
noch einmal geglückt, in einer die höchsten Interessen
berührenden Frage die Gruppen zu großen Partei-
verbänden zusammenzuschließen und in den Unio-
nisten eine geschlossene Regierungsmehrheit von
überwältigender Stärke aufzustellen. Wie sehr hinter
der großen polit. Frage der materielle Interessen-
standpunkt zurückgetreten war, zeigte der große Er-
folg der Konservativen, die nur im allgemeinen Ver-
sprechungen für Socialrefonnen, befonders für die
Landwirtschaft, gegeben hatten, während dagegen die
"unabhängige Arbeiterpartei", die nachdrückliche An-
strengungen für die Wahlen mit Aufstellung eines
besondern Programms gemacht hatte, gar keinen, die
Arbeiter überhaupt nur zwei Vertreter durckbrachten.
Es war somit auch die bedeutsame Erscheinung her-
vorgetreten, daß die Socialisten im Wahlkampf
gegen ein in der Hauptfache konfervatives Ministe-
rium vollständig unterlegen waren.
Zeigten sich so im Innern die Verhältnisse in her-
vorragender Weise gefestigt, fo war das letzte Jahr
im übrigen reich an Verwicklungen mit dem Aus-
lande, die zum Teil noch von der vorigen Negierung
überkommen waren und nicht alle günstig für Groß-
britannien verliefen. Zur Sicherung der Nordwest-
grenze Ostindiens hatte England schon im April 1895
gegen Tschitral (s. d.) eine Expedition unternehmen
müssen, die natürlich mit der Unterwerfung des un-
botmäßigen Usurpators endigte. Eine der ersten
Handlungen Salisburys war es nun, die von dem
vorigen Kabinett beabsichtigte Räumung dieses Ge-
bietes zu verhindern und es dauernd für Groß-
britannien in Besitz zu nehmen. Eine fernere Er-
weiterung erhielt das engl. Kolonialreich fodann
durch die Unterwerfung des Reichs der Afchanti,
dessen König Prempeh angeblich noch Menschen-
opfer in seinem Lande duldete, und keinen engl,. Re-
sidenten bei sich aufnehmen wollte. Ein Zug, den
man im Jan. 1896 unter Sir Francis Scott gegen
ihn unternahm, gelangte, ohneWiderstano zu finden,
bis an die Hauptstadt Kumase, worauf der König
abgefetzt und fein Land dem Gouverneur der Gold-
küste unterstellt wurde. Mit ganz ungewöhnlicher
Schärfe trat Lord Salisbury in der armenifchen
Frage (f. Armenien) auf, indem er 9. Nov. 1895
auf dem Lord-Mayors-Vankett in derGuildhall er-
klärte, der Sultan gefährde die Existenz seines Reichs,
wenn er nicht der Mißwirtschaft ein Ende mache
und durchgreifende Reformen einführe. Auch ein
eigenhändiges Schreiben des Sultans, worin dieser
seine feste Absicht, die zugesagten Reformen durch-
zuführen, versicherte, konnte Salisbury nur veran-
lassen, in einer zweiten Rede 19. Nov. semer Auf-
fassung einen etwas mildern Ausdruck zu geben,
ohne sie in der Sache zu ändern. Wenig entsprechend
diesen großen Worten war freilich Englands that-
sächliche Wirksamkeit zu Gunsten der Armenier, viel-
mehr behielt auch hier ebenso wie in Ostasien die mit
der französischen verbündete russ. Diplomatie die
Oberhand und verhinderte trotz der zahlreichen engl.
Protestmeetings, in denen sogar der greise Glad-
stone noch einmal zu Gunsten der Armenier das
Wort ergriff, ein bewaffnetes Eingreifen der Mächte
in die türk. Angelegenheiten. Dagegen gelana. es
England, im Aug. 1896 im Verein mit den übngen