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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Entwicklung der Menschheit; Kunstschaffen der Natur

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Die Urgeschichte der Kunst.

Eine andere Prüfungsfrage ist jene nach den Ursachen und der Entstehung der Kunst. Auch auf diese giebt es etliche Antworten: die einfachste und bequemste ist, daß dem Menschen der "Trieb zur Kunst" innewohne. Das ist ein handsames Wort, mit dem jeder einen Begriff nach seinem Gefallen verbinden kann.

Ich halte es indessen für nützlicher, anstatt begrifflicher Erörterungen auf einige Thatsachen und Erscheinungen in der Natur und der Menschengeschichte hinzuweisen, und will mir die Antworten auf jene Fragen für das Schlußwort ersparen, wenn solche dann überhaupt noch für nötig erachtet werden sollten.

Kunstschaffen der Natur. Die große Meisterin, welche alles in der sinnlichen Welt Mögliche kann, ist die "Natur". Der denkende Leser mag versuchen, diesem deutsamen Worte einen deutlichen Begriff unterzulegen, wenn ihm nicht die Umschreibung genügt: Kräfte schaffen aus Stoff Gebilde. Das letzte Wesen dieser Kräfte und dieses Stoffes ist für unsere Erkenntnis noch ein Geheimnis. Gläubige nennen den Urgrund Gott, die Ungläubigen vermeiden nur dieses Wort, müssen aber doch an ein erhabenes Unbekanntes glauben.

Was die Natur schafft, darf man wahrhafte Kunstwerke nennen. Ich will nicht von den großen Dingen reden; die kleinsten Lebewesen, dem Auge ohne besondere Hilfsmittel unsichtbar, sind nicht minder wunderbare Erscheinungen. Die Beispiele, welche ich hierher setze, mögen dies bezeugen. (S. Fig. 4.)

Die Geschöpfe sind aber nicht nur an und für sich Kunstwerke; viele haben auch noch die Fähigkeit, selbst wieder solche zu schaffen. Das Nest des Webervogels, der Bau des Bibers sind Gebilde, deren sich auch der Mensch nicht zu schämen brauchte, welcher sich das vollkommenste Geschöpf und den Meisterer der Natur nennt.

Entwicklung der Menschheit. Die Anlage zu dieser Vollkommenheit war dem Menschen gegeben, sie zu entwickeln blieb seine Sache. Diese Entwicklung vom sogenannten "Naturzustande" aus in ihren einzelnen Stufen und Abschnitten zu beobachten, ist uns

^[Abb.: Fig. 2. Kunsterzeugnisse der Steinzeit. (Nach Ranke und Grosse.)

1. Fisch und 2. Mensch mit Pferden, eingeritzte Zeichnungen auf Rentierknochen. 3. Pferdekopf und 4. menschliche Gestalt, Schnitzereien aus Bernstein. 5. Menschliche Gestalt, Schnitzerei aus Tropfstein. 6. Junges Rentier, aus Rentiergeweih geschnitzter Dolchgriff. 7. Kopf eines Moschusochsen, Schnitzerei aus Rentiergeweih.]