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Herrmann Julius Meyer über die Herausgabe eines Konversationslexikons

Auszüge, 1879 (in: Daheim, Leipzig Velhagen & Klasing, 1879, zitiert nach Gerhard Menz, Hundert Jahre Meyers Lexikon, Leipzig 1939)

Herrmann Julius Meyer
Herrmann Julius Meyer

Die erste Arbeit für die Ausführung einer neuen Auflage ist durchaus nicht literarischer Natur; sie wird vielmehr mit Schere und Kleister ausgeführt. Da es unmöglich ist, jedem einzelnen der Mitarbeiter, die sich auf mehrere hundert belaufen, ein vollständiges Exemplar der früheren Auflage zu übersenden und ihm zuzumuten, das darin aufzusuchen, was er zu behandeln hat, so werden die sämtlichen einzelnen Artikel des Werkes - es sind deren beiläufig gegen siebzigtausend - herausgeschnitten und jeder einzeln auf Schreibpapier geklebt; viele große Artikel, an denen verschiedene Fachschriftsteller sich zu beteiligen haben, werden sorgfältig auch in eben so viele Teile zerlegt.

Mit diesem mechanischen Geschäft, welches indessen viel Aufmerksamkeit erfordert, weil das Ausfallen einzelner Artikel für das Gelingen des ganzen Werkes höchst nachteilig werden kann, verbringen einige Arbeiter eine ganze Reihe von Monaten.

Nachdem die eben beschriebene Tätigkeit der Buchbinder blattweise kontrolliert worden ist, liegt es einem durchaus kühlen und zuverlässigen Kopfe ob, die siebzigtausend Artikel Zeile für Zeile zu zählen, um danach festzustellen, welchen Umfang die nahezu hundert Fächer und Abteilungen einnehmen dürfen, in welche das Gesamtgebiet der Wissenschaft für den vorliegenden Zweck zerlegt werden soll. Denn ohne diese genaue Rechnung, ohne diese langweiligen Zahlen, ohne ganz bestimmte Gesetze über den Raum ist das Konversationslexikon nur dann eine Möglichkeit, wenn sich ein Publikum findet, das unbekümmert um die Zahl der Bände, erhaben über die Frage des Geldbeutels geduldig ausharrt, bis das Werk glücklich beim Z angelangt ist; möge es auch dreißig statt fünfzehn Bände erreicht haben. Was der Etat im Haushalt der Staaten, das ist der Raum beim Konversationslexikon. Wie bei jenem die einzelnen Positionen nicht überschritten werden dürfen, so muß hier auch jeder Mitarbeiter mit dem Raum auskommen, der ihm zugemessen ist. Dieses Maß aber zu bestimmen, und nach Wichtigkeit und Interesse des Gegenstandes im voraus auszumessen, ist ein Kunststück, zu dem nicht nur ein sicheres Urteil, sondern auch reiche Erfahrung gehört.

Während diese doppelte Tätigkeit vor sich ging, haben auch der Herausgeber und sein Redaktionsstab keineswegs gefeiert. Die Grundsätze, nach denen das Lexikon umzuarbeiten, zu erweitern und zu verbessern ist, sind in langwierigen Beratungen und oft sehr lebendigen Diskussionen besprochen und endlich festgestellt. Daran hat sich die Zahl der Mitarbeiter geschlossen, und an die besten unter den Empfohlenen sind Einladungen ergangen. Zur Antwort laufen abwechselnd bereitwillige Zusagen und kühle Ablehnungen ein; dazwischen auch freiwillige Anerbietungen von Unberufenen, die selten brauchbar sind.

Um die Gewähr einer sach- und fachgemäßen Ausführung des großen Unternehmens zu gewinnen und die Zersplitterung der Kräfte zu vermeiden, hat man die Errichtung von 'Spezialredaktionen' beschlossen. Die verwandten Fächer einer oder mehrerer Wissenschaften werden nämlich der Leitung eines besonderen Spezialredakteurs, eines hervorragenden Vertreters seines Faches unterstellt und dieser trifft nun die definitive Auswahl der Mitarbeiter, erteilt ihnen genaue Weisungen und Winke aufgrund eines gemeinsam entworfenen 'Programmes' über die inneren Fragen des Werkes, das nach sorgfältiger Beratung in der Hauptredaktion druckfertig geworden ist. Dieser Spezialredakteur ist natürlich für das übernommene Gebiet der Hauptleitung auch voll verantwortlich. Während die oberste Redaktion ihren Sitz bei dem Verleger hat und die Centralstelle des ganzen Werkes bildet, wohnen die Spezialredakteure in verschiedenen Universitätsstädten und anderen Mittelpunkten des deutschen Bücherwesens.

Nun erst wandern die Ausschnitte alle wohlgeordnet, aufs genaueste verzeichnet, numeriert und kontrolliert in die Welt hinaus. Unter den Händen eines universell gebildeten Mannes, der Monate lang sich ausschließlich der Arbeit des Ordnens gewidmet hat, habe sie ihre bisherige alphabetische Ordnung mit einer streng wisenschaftlichen vertauscht, so daß z. B. alle naturwissenschaftlichen Artikel, alle Artikel des Gewerbes, der Kunst usw. zusammenliegen; der Umfang des Ganzen und jeder einzelnen Disziplin ist bis ins Kleinste berechnet worden; manche von ihnen ist zugunsten einer anderen beschränkt worden und über das ganze Werk in alen seinen Teilen liegen nunmehr die genauesten statistischen Nachweise vor; sie bilden die Grundlage der prinzipiellen Disposition, deren Ausführung jetzt in fremde Hände gelegt wird.

Die Mitarbeiter, welche von den Spezialredakteuren ihre Aufgabe erhalten haben, prüfen zunächst, ob alles unter dem richtigen Stichwort verzeichnet ist, damit nicht ein und dieselbe Persönlichkeit etwa unter dreierlei Namen vorkommt, erwägen die innere und äußere Gleichmäßigkeit der Artikel, stellen sich die Fortschritte in ihren Wissenschaften zusammen und machen sich dann an die Umarbeitung der alten Artikel. Nur zu oft entdeckt da der betreffende Gelehrte, daß so ziemlich alles veraltet ist und von Grund aus verbessert werden muß; die Vertrauen erweckende Angabe hat in den letzten Jahren durch die Veröffentlichung eines Augenzeugen oder durch das Ergebnis einer langwierigen Polemik ihre Gültigkeit verloren; eine vor Jahren mit größter Berechtigung ausgesprochene Meinung besteht nicht mehr vor der Kritik, jenes Datum hat sich längst als unrichtig erwiesen oder es stellt sich nach langem Suchen als ein unerklärlicher Druckfehler heraus, der aller Augen entgangen ist. Besondere Schwierigkeiten bereiten gewisse Disziplinen, wie Geschichte und Geographie in den letzten Jahrzehnten. Da sind ganze Königreiche verschwunden und in Provinzen umgewandelt, die Reichsgrenzen verrückt u. dgl. Nun muß in ungezählten Artikeln das Wörtchen: 'lombardisch-venetianisch', 'königlich hannöversch', 'kurhessisch' oder 'nassauisch' gestrichen und alles was dazu gehört, in 'italienisch' oder 'preußisch' umgewandelt werden.

Schließlich ist das Ergebnis des mühseligen Nachschlagens, Vergleichens und Nachdenkens nur zu oft: eine unscheinbare Zahl und wenige Zeilen. Unter wachsendem Erstaunen über die Unbeständigkeit und Wandelbarkeit seiner Wissenschaft nimmt der Gelehrte den Stoß der kleinen Aufsätzchen noch einmal zur letzten Revision vor, er revidiert, streicht, stellt wieder her, schreibt neu und geht dann an die Reihe der großen Artikel, von denen er sich Erholung verspricht. Aber er hat sich getäuscht, mit dem Maß des Umfangs wächst auch das Maß des Fehlerhaften, Veralteten und der Anstrengung. Dazu kommt die Einhaltung des vorgeschriebenen Raumes; nach sorgfältiger Erledigung aller Vorarbeiten ist ein großer Artikel in Angriff genommen und ausgeführt, es ist ein wahres Kabinettstück von gewissenhafter Vollständigkeit und übersichtlicher Klarheit, aber o weh! er ist unbrauchbar, denn er hat unversehens die vorgeschriebene Länge um das Dreifache überschritten. Was tun? Der Gewissenhafte gaht an eine mühsame Kürzung und nochmalige Umarbeitung - die meisten freilich senden ihr Elaborat unverändert an den Spezialredakteur ab, der oft auch nicht den Mut hat, daran etwas zu streichen, sondern es weiter schickt, wie er es erhalten hat. Seine Arbeit ist überhaupt keine ganz leichte. Viele der einlaufenden Artikel entsprechen allerdings den Erwartungen, andere sind mehr oder minder mißverstanden und müssen an die Verfasser mit einer wiederholten Darlegung des eigentlichen Zieles zurückgehen, andere erweisen sich als ganz unbrauchbar und es muß Ersatz für sie gefunden werden.

Während solchergestalt die Spezialredakteure ihre Einsendungen vorbereiten, arbeiten auch noch manche andere Kräfte im Dienst des großen Werkes. So hat es der Herausgeber verstanden, zur Richtigstellung der Städteartikel die Mitwirkung sämtlicher Magistrate und anderer Behörden heranzuziehen. Auf die dankenswerteste Weise haben sich ausnahmslos die Staatsbehörden bereit finden lassen, die zuverlässigsten Nachrichten über ihre Gemeinden zu geben. Eine ähnliche Unterstützung ist den deutschen Handelskammern und den kaiserlich deutschen Konsulaten nachzurühmen. Auch aus Österreich liefen die gewünschten Notizen ein, nur eine Anzahl tschechischer Bürgermeister wies die Anfrage mit Protest zurück.

Ganz unerwartete Schwierigkeiten bietet die Herbeischaffung eines zuverlässigen biographischen Materials über die Persönlichkeiten, welche als Repräsentanten der Gegenwart in dem Lexikon auftreten sollen. 'Am willfährigsten', erzählt unser Gewährsmann, 'sind die jüngern Zierden unserer Universitäten, die gewissenhaft von den Gymnasialstudien an berichten, bis zu dem, was sie noch zu leisten gedenken; bei weitem spröder zeigen sich die dramatischen Künstler und Künstlerinnen, namentlich verschweigen die letzteren nur zu häufig das Geburtsjahr. Auch wird viel über die Meister der bildenden Künstler geklagt und behauptet, die Hand, die gewohnt sei stets den Pinsel oder den Meißel zu führen, ergreife nur mit Widerstreben die Feder. Wirkliche Geheime Räte und andere Glieder der höheren Bürokratie pflegen regelmäßig den Vornamen für etwas überflüssiges zu halten. Ein Mißverständnis ist unter allen Umständen allen Kategorien gemeinsam, die Verwechslung der gewünschten kurzen Notizen mit ausführlichen Lebensbeschreibungen. Endlich fehlt es auch nicht an solchen, die sich unerbitterlich weigern, über ihren Lebenslauf das geringste Licht zu verbreiten.

Langsam gehen alle diese verschiedenen Beiträge bei dem Hauptredakteur ein. Mahnbrief auf Mahnbrief wird erlassen, auch der Telegraf in Tätigkeit gesetzt, um die Nachzügler herbeizuholen. Endlich ist alles beisammen, um die Arbeit des ersten Bandes in Angriff zu nehmen. Wie alles Menschliche Stückwerk ist, so auch der Riesenhaufen von Manuskripten, der sich in dem Büro der Hauptredaktion angesammelt hat und der letzten Prüfung harrt. Aus einem halben Hundert Zeitschriften, zu deren Lektüre und Verwertung ein besonderer Notizensammler angestellt ist, aus sorgfältigster Verfolgung der deutschen und ausländischen Publikationen hat sich eine stattliche Menge von Miszellen und Notizen (z. B. über die neuesten Personalveränderungen, Beförderungen, wissenswerten Lokalbegebenheiten u. dgl.) angesammelt, die - alle schon längst in der strengen Ordnung erhalten, in welcher sie Verwendung finden sollen, - Veranlassung geben zu Nachträgen aller Art. Die größte Schwierigkeit macht aber die Auseinandersetzung mit diesem und jenem Mitarbeiter, an dessen Manuskript sich die Spezialredakteure nicht getraut haben, Hand anzulegen. Da hält es Dr. X für durchaus notwendig, irgendein technisches Verfahren, das sich freilich gar nicht bewährt hat, so eingehend darzulegen, als wäre der Aufsatz für das Patentamt bestimmt, und er ist tief gekränkt, als ihm auseinandergesetzt wird, daß seine Arbeit auf wenige Zeilen zusammenschrumpfen muß. Da beklagt sich Professor Y., in dessen Beitrag einige kaum nennenswerte Kleinigkeiten geändert worden sind, über diesen unerhörten Eingriff in die 'berechtigten Eigentümlichkeiten des Autors'. Um übrigens beiden Parteien gerecht zu werden, darf nicht vergessen werden, wie unendlich schwer es ist, sich in die vom Konversationslexikon geforderte Kürze zu fügen und wie anerkennswert die Bereitwilligkeit derjenigen Gelehrten erscheint, die mit wahrer Selbstverleugnung vor dieser Zumutung nicht zurückschrecken.

Ferner werden von der Hauptredaktion auch die Geburts- und Todestage, namentlich in neueren Biographien, sorgfältig geprüft. Es ist dies keine so leichte Aufgabe, wie mancher glaubt; oft finden sich in 11 verschiedenen Handbüchern und Lexiken von Ruf und Ansehen 11 verschiedene Angaben über den Todestag eines Mannes und es fällt oft unglaublich schwer, das richtige Datum zu konstatieren.

Bis zur wirklichen Ablieferung an die Offizinen der Verlagshandlung hat nun das Manuskript noch verschiedene Stadien zu durchlaufen, die mit untrüglicher Regelmäßigkeit wiederkehren, von denen keines übersprungen werden darf, ohne daß dadurch ganze Reihen der dem Leser längst vertraut gewordenen äußeren Kennzeichen abhanden kommen würden. Denn jetzt beginnt die Tätigkeit des Mannes, der speziell den Beruf hat, dem Konversationslexikon im Äußeren diejenigen Merkmale aufzudrücken, deren konsequente Durchführung gerade das Meyersche Werk so vorteilhaft von anderen unterscheidet und für den praktischen Gebrauch des Nichtgelehrten so wertvoll macht.

Da handelt es sich zunächst um die untrügliche Feststellung des Alphabets, um dem Leser das Aufsuchen zu erleichtern, und um spätere Änderungen und Umstellungen in Satz und Schrift zu vermeiden. Da ist die Aussprache und Betonung hinter dem Stichwort fremder Zunge mit kleiner Schrift und in Klammern hinzuzufügen. Auch diese Arbeit stößt oft auf ganz unerwartete Schwierigkeiten, in manchen Fällen ist die wirkliche Aussprache fast unmöglich festzustellen. 'Als wir unsern in Oxford lebenden Mitarbeiter', berichtet ein Gewährsmann, 'wegen der unergründlichen Aussprache des englischen Dichters Aide zu Rate zogen, ergab sich das Seltsame, daß dieser Name von vier auf der Oxforder Bibliothek anwesenden Engländern vierfach verschieden ausgesprochen wurde. Da war es doch besser, die Aussprache ganz wegfallen zu lassen und ähnlich geht es in so manchen Fällen.'

Eine weitere Arbeit der Hauptredaktion ist auf die höchste biographische Genauigkeit gerichtet. Wenige ahnen, wie viel Anstrengung und Ausdauer das fortwährende Aufschlagen der Tausende von Büchertiteln in deutscher und fremder Sprache erheischt, die den gleichen Anspruch auf Korrektheit haben, wie jeder andere Gegenstand des Konversationslexikons.

Endlich ist eine scharfe Kontrolle der 'Verweisungen' notwendig, ehe das Manuskript in den Setzersaal wandert. Damit der Leser auch wirklich den Artikel findet, auf den er 'verwiesen' wurde, ist nun in der Hauptredaktion ein lebender Apparat erfunden worden, zu dessen Bedienung mindestens fünf Personen erforderlich sind, deren Tätigkeit es zu verdanken ist, wenn die Besitzer des Lexikons mit dem beliebten '(s. d.)' nicht in die Irre geführt werden, und dessen Spürsinn bis unmittelbar vor den Druck reicht.

Gleichzeitig mit der Fertigstellung des Manuskripts werden auch die Illustrationen besorgt, die teils als Beilage, teils als Textbilder im 'Meyer' auftreten. Es sind dies keine zusammengelesenen Klischees aus anderen Werken, sondern durchweg eigens für das Konversationslexikon hergestellte Zeichnungen, auf deren Schnitt und Druck eine ebenso sorgfältige Mühe verwandt wird, wie für ihre Anfertigung.

'Auch hier drohen', hieß es damals, nach heute freilich durch die technische Entwicklung überholten Verhältnissen, 'noch ganz unvorhergesehene Hindernisse den flotten Gang des Drucks zu unterbrechen. So wartete unser Freund B. in Berlin auf eine günstige Gelegenheit, eine einzig ihm noch fehlende Pflanze auf unserer Tafel 'Giftpflanzen' in Blüte zu sehen; denn soviel als möglich sind diese Tafeln nach der Natur gezeichnet. Ein Sonntagsausflug in den Grunewald gewährt ihm endlich das ersehnte Glück, und während der Buchbinder schon das Heft zurüstet, in welchem die Tafel erscheinen soll, zeichnet Herr B. noch seine Pflanze, worauf es noch der Arbeit des Holzschneiders bedarf, um die Platte rechtzeitig fertig zu stellen. Halten Sie es nicht für übertrieben, wenn ich Ihnen versichere, daß sich Erinnerungen ähnlicher Art an die Mehrzahl der Tafeln knüpfen, über die Sie sich so lobend aussprechen.

Inzwischen hat ein Schwarm von Schriftsetzern, die sämtlich auf die vorgeschriebene 'Hausorthographie' eingeübt sind, den Satz so rasch gefördert, daß es möglich ist, das Werk mit der Pünktlichkeit einer Tageszeitung erscheinen zu lassen.

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