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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Auslieferung von Verbrechern

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Auslieferung von Verbrechern (gegenwärtige Rechtsnormen).

land und Amerika auch eigne Unterthanen zur Bestrafung aus (beispielsweise im Mordprozeß Tourville).

2) Die Bestimmung derjenigen Verbrechensfälle, in denen A. verlangt werden kann und anderseits zu gewähren ist. Die geringfügigen Übertretungen scheiden dabei schon mit Rücksicht auf den Kostenpunkt aus. Ebenso hat sich, freilich erst in unserm Jahrhundert, die Maxime verbreitet, in Gemäßheit welcher die Auslieferung politischer Verbrecher ausgeschlossen wird. Welche Thatbestände als politische zu gelten haben, ist nicht leicht zu sagen. In allen zweifelhaften Fällen wird die Entscheidung des Zufluchtsstaats ausschlaggebend sein. Seitdem sich, zumal in den letzten Jahrzehnten, die Angriffe auf das Leben der Regenten gemehrt haben, ist die Begrenzung politischer Verbrechen gegenüber gemeinen Verbrechen lebhaft erörtert worden. Moderne Verträge bestimmen, nach dem Vorgang Belgiens vermittelst der sogen. Attentatsklausel, vielfach, daß Mordanfälle gegen das Staatsoberhaupt oder die Mitglieder der Regentenhäuser als gemeine Verbrechen erachtet werden sollen. Diese Attentatsklausel fehlt jedoch noch in der Auslieferungspraxis von England, Amerika, Italien und der Schweiz. Nach der Ausscheidung der geringfügigen Delikte und der politischen Verbrechen bleiben als eigentümliches Objekt der Auslieferungsverträge die schweren gemeinen Verbrechen oder Vergehen, wie Tötungen, Körperverletzungen, Raub, Diebstahl, Notzucht, Falschmünzerei etc.

3) Die Feststellung des Auslieferungsverfahrens zwischen den beteiligten Regierungen. In dieser Hinsicht bestehen noch in der Gegenwart fundamentale Gegensätze in Theorie und Praxis. Nach dem bisherigen französisch-kontinentalen Rechtszustand wird die A. lediglich als diplomatisch-administrative Angelegenheit zwischen den Staatsregierungen betrieben, so daß sich der Hergang zwischen den auswärtigen Ministerien, der Justizverwaltungsstelle und den Polizeibehörden abspielt. Wesentlich dabei ist nur dies, daß die Identität des Flüchtlings auf Grund genauer Beschreibung nachgewiesen, der ihm zur Last gelegte Verbrechensthatbestand angegeben und die den Angeschuldigten verdächtigenden Beweismittel so weit ersichtlich gemacht werden, daß der Erlaß eines richterlichen Haftbefehls gerechtfertigt erscheint. Anders nach englisch-amerikanischem Recht, wo das Prinzip der persönlichen Freiheit auch dem Ausländer gegenüber dadurch gewahrt wird, daß der Richter zu prüfen hat, ob die vorhandenen Beweismittel zum Erlaß eines Haftbefehls nach den in Amerika oder England geltenden Gesetzen ausreichend sind. Der auf Requisition einer ausländischen Regierung zum Zweck seiner Auslieferung Festgenommene wird daher vor dem Richter mit seinen Einwendungen gehört und kann auch darthun, daß es sich bei dem ihm zur Last gelegten Thatbestand um ein politisches Verbrechen handeln würde. Auch in Belgien und Holland konkurriert die richterliche Gewalt bei der Erledigung der A. In der That erscheint es ungerecht, den Fremden, ohne ihm ein gerichtliches Gehör zu eröffnen, lediglich auf Ersuchen einer ausländischen Behörde seiner persönlichen Freiheit zu berauben. Die Mitwirkung des Richters bei der Entscheidung der Frage, ob einem Auslieferungsbegehren recht gegeben werden könne, ist daher so weit notwendig, als es sich um Präjudizialfragen rechtlicher Art handelt oder der Verfolgte im stande ist, die bezeichnete Identität seiner Person zu widerlegen. Dagegen kann es nicht gebilligt werden, wenn in England und Amerika der Richter eine Voruntersuchung führt, um zu ermitteln, ob die vorhandenen Anschuldigungsbeweise zur Verhaftung genügend sind. In dieser Richtung muß vielmehr die Versicherung des ausländischen Richters als hinreichend erachtet werden.

4) Die Behandlung der Kostenfrage. Am einfachsten und zweckmäßigsten übernimmt jeder Staat die in seinem eignen Gebiet für den Transport verausgabten Kosten, ohne deren Ersatz im einzelnen Fall zu betreiben. Anders verhält es sich mit den Zwischenstrecken, durch deren Gebiet auslieferungsflüchtige Verbrecher zu transportieren sind. Von kleinern Ländern, wie der Schweiz und Belgien, kann billigerweise nicht verlangt werden, daß sie die Kosten für fremde Großstaaten ohne jede Möglichkeit der Reciprozität betreiben.

Mit der Auslieferung der Personen ist jeweilig auch die Beschlagnahme derjenigen Sachen verbunden, welche als Beweismittel für Untersuchungszwecke oder als spätere Ersatz quellen für den verbrecherisch verursachten Schaden in Anspruch genommen werden. Im übrigen kann sich das Auslieferungsverfahren je nach den Umständen und Verhältnissen verschieden gestalten. Eine abgekürzte Prozedur pflegt bei entlaufenen Matrosen im Interesse der Seeschiffahrt überall zugelassen zu werden. Das gegenwärtige Recht ist in vielen Stücken als ungenügend und mangelhaft zu bezeichnen. Als reichstes Ziel für die internationale Praxis erscheint die Ausgabe, nach dem Vorbild des Weltpostvereins einen Verein solcher Staaten zu begründen, die sich in Beziehung auf die Grundsätze eines allgemeinen Auslieferungsrechts miteinander verständigen und den Thatbestand derjenigen Verbrechen einheitlich feststellen, in denen Auslieferungspflicht anzunehmen sein würde.

Das 1873 zu Gent gestiftete Völkerrechtsinstitut hat es versucht, in seiner Jahresversammlung zu Oxford (1880) die Grundsätze zu formulieren, die vom Standpunkt der Völkerrechtswissenschaft dem heutigen Auslieferungsrecht der Kulturstaaten zu Grunde gelegt werden sollten. Danach wird die Auslieferung von gemeinen Verbrechern (Mördern, Brandstiftern, Dieben) als ein internationaler Rechtsakt bezeichnet, welcher zwar auch ohne besondere Vertragsschließungen rechtmäßig besteht, aber nur durch den Abschluß von Staatsverträgen und bestimmte, innerhalb der einzelnen Staaten zu erlassende Gesetze über das Auslieferungsverfahren eine befriedigende Regelung erfahren kann. Dabei ist Gegenseitigkeit keine unerläßliche Bedingung. Wenn die in mancher Hinsicht wünschenswerte Auslieferung der eignen Unterthanen nicht zugestanden wird, so erscheint es doch billig, die nach Begehung der That erworbenen Bürgerrechte unberücksichtigt zu lassen; auch wird die Berechtigung des eine A. verlangenden Staates nach dessen Gesetzgebung zu bemessen sein, sofern diese Gesetzgebung sich nicht mit der des ersuchten Staates in Widerspruch befindet. Wegen politischer Vergehen findet keine A. statt; ist aber das politische Verbrechen zugleich mit einem gemeinen verbunden, so darf die A. nur dann gewährt werden, wenn die bestimmte Versicherung vorliegt, daß der Ausgelieferte nicht durch ein Ausnahmegericht abgeurteilt wird. Die A. erfolgt nach Prüfung des Gesuchs durch einen Richter und dessen Zustimmung und zwar auf diplomatischem Weg. Die Regierung, welche den Ausgelieferten in ihre Gewalt brachte, darf denselben ohne Zustimmung der ausliefernden Regierung weder wegen andrer als der zuerst bezeichneten Vergehen aburteilen, noch auch an eine dritte