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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Boccaccio

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Boccaccio.

darauf sandte ihn die Regierung an den päpstlichen Hof in Avignon, um mit Innocenz VI. über das bei der erwarteten Ankunft Kaiser Karls IV. zu beobachtende Verfahren zu verhandeln. 1359 stattete er seinem Freund Petrarca in Mailand einen Besuch ab, und bei dieser Gelegenheit gelang es letzterm, den sinnlichen Genüssen übermäßig ergebenen B. zu einer Änderung seiner bis dahin ziemlich leichtfertigen Lebensweise zu veranlassen. Er gab sich seitdem mehr als bis dahin religiösen Betrachtungen und Übungen hin; doch steht es nicht ganz fest, daß er, wie einige behaupten, in den geistlichen Stand getreten sei. Nachdem sich die florentinische Regierung in den nächsten Jahren seiner noch mehrmals zu diplomatischen Sendungen bedient hatte, erteilte sie ihm 1373 den ehrenvollen Auftrag, öffentliche Vorlesungen über Dantes "Divina commedia" zu halten, die er im Oktober d. J. begann. Er starb aber schon 21. Dez. 1375 in Certaldo. Nach länger als 500 Jahren (Juni 1879) wurde ihm daselbst auf der Piazza Solferino ein Denkmal errichtet.

Boccaccios Werke sind sehr zahlreich und sowohl in italienische als in lateinischer Sprache geschrieben. Von den italienischen in gebundener Rede ist seine "Teseide" (erste Ausg., Ferrara 1475), auch "Amazonide" genannt, das älteste romantische Epos der Italiener, der genannten Prinzessin Maria gewidmet. Es besteht aus zwölf Gesängen in Ottaven, und sollte B., wie von den meisten angenommen wird, der Erfinder dieser Strophenform sein, der schönsten, die für diese Gattung der Dichtkunst gefunden werden konnte, so würde er sich schon dadurch allein ein hohes Verdienst erworben haben. Im übrigen ist das Gedicht weder dem Inhalt noch dem Stil nach von großem Wert. Ein andres langes Gedicht: "Amorosa visione" (noch ungedruckt), besteht aus 50 Gesängen in Terzinen und ist ebenfalls der Prinzessin gewidmet in zwei Sonetten und einer Kanzone, die in den Anfangsbuchstaben jedes Terzetts versteckt sind. "Ninfale Fiesolano" (zuerst Vened. 1477) und "Il Filostrato" (das. 1480; deutsch von Beaulieu-Marconnay, Berl. 1884), welches die Liebe von Troilus und Cressida besingt, sind gleichfalls romantische Gedichte in Ottaven. Dazu kommt noch eine Reihe von Sonetten und Kanzonen. Von allen diesen Werken war B. selbst nicht sehr erbaut und soll manche andre verbrannt haben, als ihm Petrarcas Gedichte bekannt wurden. Das Urteil seiner Landsleute hat sein eignes bestätigt, denn weder bei seinen Zeitgenossen noch bei der Nachwelt haben diese Gedichte großen Anklang gefunden. Von seinen Prosawerken ist wahrscheinlich das älteste, "Filocopo" (zuerst Vened. 1472), eine weitschweifige und schwülstige Bearbeitung der französischen Sage von Flor und Blancheflor. Besser geschrieben ist "L'amorosa Fiammetta" in 7 Büchern, die Liebesklagen der von ihrem Geliebten verlassenen Fiammetta enthaltend (erster Druck, Padua 1472; deutsch unter andern von Diezel und Kurz mit dem "Decamerone", Stuttg. 1855). Ferner sind zu nennen: "Il Corbaccio, o Labirinto d'amore" (zuerst Flor. 1487), eine heftige Satire auf das weibliche Geschlecht; "L'Ameto" (zuerst Rom 1478), ein Schäferroman, aus Prosa und Versen gemischt; seine Biographie Dantes: "Origine, vita e costumi di Dante Alighieri", zwar sehr viel Romanhaftes enthaltend, aber durch die Schreibart ausgezeichnet, und der "Commento sopra la Commedia di Dante" (beste Ausg. von Milanesi, Flor. 1863, 2 Bde.), der zwar nur bis zum 17. Gesang der Hölle reicht, aber mancherlei wertvolle Aufschlüsse gibt. Der große Ruhm Boccaccios gründet sich indessen auf keins der vorhergenannten Werke, sondern einzig und allein auf sein "Decamerone", welches durch die außerordentliche Schönheit der Sprache und des Stils ein Muster für alle Folgezeit geworden ist und seinem Verfasser mit vollem Rechte den Namen eines "Vaters der italienischen Prosa" und somit den des dritten Begründers der italienischen Litteratur neben Dante und Petrarca erworben hat. Das "Decamerone" ist eine Sammlung von 100 Novellen, die nach orientalischer Weise durch einen Rahmen miteinander verbunden sind, indem der Dichter sie von einer Gesellschaft von zehn jungen Leuten beiderlei Geschlechts, die während der Pest aus Florenz geflüchtet sind, zu ihrer gegenseitigen Unterhaltung nach der Reihe während zehn Tagen (daher der Name) erzählen läßt. Die allerwenigsten dieser Geschichten, welche der mannigfachsten Art und teils tiefernsten und rührenden, teils heitern, ja ausgelassenen Inhalts sind, scheinen von seiner Erfindung zu sein. Die meisten sind nachweislich teils aus französischen "Fabliaux", teils aus der ältern Sammlung der "Cento novelle antiche" geschöpft, teils gründen sie sich auf wahre Begebenheiten. Die Verschiedenheit der dem Leser vorgeführten Menschenklassen und Persönlichkeiten, ihre vortreffliche Charakteristik, die Mannigfaltigkeit der Begebenheiten, der reizvolle Wechsel von Ernst und Scherz, die Anmut der Erzählungsweise, verbunden mit der Fülle und Gewandtheit der Sprache, haben das "Decamerone" nicht nur zu einer Lieblingslektüre der Italiener aller Zeiten gemacht, sondern ihm eine Bedeutung für die Weltlitteratur erworben. Beeinträchtigt wird sein Wert allerdings durch die nur allzu oft frivole Behandlung sittlicher Verhältnisse und den bis zur Schlüpfrigkeit freien Inhalt eines Teils der Erzählungen, weshalb das "Decamerone" stets mit Recht als verderblich für jugendliche Gemüter erklärt worden ist. Doch fällt dieser Fehler nicht allein dem leichtfertigen Sinn des Dichters, sondern der ganzen Richtung seiner Zeit zur Last. Das "Decamerone" ist unendlich oft gedruckt und wiederholt in alle gebildeten Sprachen übersetzt worden. Die erste Ausgabe desselben, die sogen. Deo gratias-Ausgabe, erschien ohne Angabe des Jahrs und des Orts, die zweite in Venedig 1471, beide in Folio und sehr selten; außerdem brachte das 15. Jahrh. noch elf Ausgaben. Sehr geschätzt wegen ihrer Korrektheit wird die Florentiner Ausgabe von 1527 (die sogen. "Ventisettana"). Weitere Ausgaben sind: Lyon 1555; Amsterdam (Elzevir) 1665; London 1727; Paris 1757, 5 Bde.; 1768, 3 Bde.; nach einer Handschrift Amaretto Manellis vom Jahr 1384, Lucca 1761; von Poggiali, Livorno 1789-90, 4 Bde., und die Pisaner 1815, 4 Bde.; die kritische Ausgabe von Biagoli mit historisch-litterarischem Kommentar (Par. 1823, 5 Bde.); die von Ugo Foscolo mit geschichtlicher Einleitung (Lond. 1825, 3 Bde.) und namentlich die von Fanfani (Flor. 1857, 2 Bde.; dazu als 3. Bd. die berühmten "Annotazioni dei deputati"). Eine gute Textausgabe enthält Brockhaus' "Biblioteca d'autori italiani" (Leipz. 1861, 2 Bde.). Außerdem gibt es zahlreiche Auswahlen der nicht anstößigen Novellen, so: "Trenta novella" (Flor. 1859). Bereits um 1471 wurde das "Decamerone" ins Deutsche von Heinrich Steinhöwel übertragen (hrsg. von Keller, Stuttg., Litterar. Verein 1860); neuere deutsche Übersetzungen lieferten Soltau (Berl. 1803, 3 Bde.; neue Ausg. 1884), Schaum (Quedlinb. 1827, 6 Bde.), Ortlepp (Stuttg. 1841, 8 Bde.), Witte (3. Aufl., Leipz. 1859, 3 Bde.), Diezel und G. Kurz