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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Buddhismus

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Buddhismus.

werden, ist nach dem Dogma der Buddhisten unendlich. Der historische, der einzig wirkliche Lehrer und Begründer des B. ist der Königssohn Siddhârtha aus dem Geschlecht der Sâkja, welchem im 7. Jahrh. v. Chr. die Ebenen des Ganges und die Gegenden nördlich davon bis an den Himalaja unterthan waren; die Hauptstadt war Kapilavastu. Nach der Legende wurde er auf unbefleckte Weise empfangen, indem er sich als weißer Elefant aus der Götterregion herabsenkte und als fünffarbiger Lichtstrahl in den Leib seiner Mutter einging; durch die rechte Seite oder die Achselhöhle erfolgte seine Geburt. Schon in frühster Jugend gab er Proben seiner außerordentlichen Begabung; Hang zur Einsamkeit zeichnete ihn von jeher aus, daher auch sein am häufigsten wiederkehrender Name Sâkjamuni ("Einsiedler der Sâkja"), mit dem auch wir ihn hier nennen wollen. Nachdenken über die Hinfälligkeit des menschlichen Körpers soll ihn dazu bestimmt haben, dem Thron zu entsagen, Weib und hohe Umgebung zu verlassen; Unglück im Krieg und Vertreibung seiner Familie dürften jedoch den wirklichen Anlaß zur Wahl eines andern Lebenswegs gegeben haben. Er ist Zeitgenosse der sieben Weisen Griechenlands. Schriftliches hat er nicht hinterlassen; der Gebrauch der Schrift war zu seiner Zeit in Indien jedenfalls ein sehr beschränkter. Die Kritik hat nachgewiesen, daß dem Buddha vieles zugeschrieben wird, was von den Führern der verschiedenen Schulen später gelehrt wurde; wir tragen hier seine und seiner Anhänger spätere Lehre in der durch die neuere Forschung festgestellten Reihenfolge vor.

Die Lehre, welche Sâkjamuni selbst verkündete, spricht sich am deutlichsten in den "vier Wahrheiten" aus. Diese sind: 1) der Schmerz, die Folge der Existenz; 2) die Erzeugung des Schmerzes durch die Existenz, durch das Verlangen danach, durch die Befriedigung in derselben (alles Folge von Ursache und Wirkungen); 3) das Aufhören des Schmerzes durch Aufhören der Befriedigung an der Existenz, dann der Existenz selbst; 4) der Weg und die Mittel, um dahin zu gelangen, daß man an der Existenz keinen Genuß mehr finde. Die Veranlassung zur Existenz liegt in schlechten Werken; sie verlangen zur Strafe Abbüßung durch die Leiden einer Existenz. Wer aber den Weg der Entsagung wandelt, welchen Buddha zeigte, meidet die Veranlassung zur Sünde; er wird die volle Einsicht in die Gründe des Daseins und des Jammers erlangen und die Befreiung von späterer Existenz; die vollkommene Vernichtung des Individuums ist die Folge. Das Nirwâna (s. d.), ein Verlöschtwerden, ein vollkommenes Ausgewehtwerden wie das Licht einer Lampe, welches keine Spur zurückläßt, tritt ein; wer Nirwâna erreicht, erlangt dadurch vollkommene Befreiung von Existenz und von der Notwendigkeit, wiedergeboren zu werden (vgl. Seelenwanderung). Buddha beansprucht das Verdienst, die Mittel hierzu gezeigt zu haben; es sind dies: Beobachtung einfacher, allgemein verständlicher moralischer Vorschriften, Beherrschung der Leidenschaften und der Gelüste; er fordert kein positives Thun, sondern ein negatives Verhalten (ähnlich wie die zehn Gebote richtiger Verbote sind). In dem Verlangen, man solle auch die gewöhnlichsten menschlichen Regungen unterdrücken, in nichts dem Körper nachgeben und suchen, sich unabhängig von demselben zu machen, lehnte sich Buddhas Lehre an die bisherigen Anschauungen an. Der ursprüngliche B. zeigt nahe Verwandtschaft zu dem Sânkhjasystem (s. d.) des Philosophen Kapila und konnte zu dem komplizierten System erweitert werden, als welches wir ihn in den heiligen Schriften der Buddhisten vorfinden. Sâkjamuni starb wahrscheinlich 543 v. Chr., angeblich 80 Jahre alt. Das Auftreten verschiedener Meinungen und Spaltungen wird schon aus dem 1. Jahrh. nach seinem Tod berichtet; auf dem zweiten Konzil (100 Jahre nach seinem Nirwâna) wurde verlangt (aber nicht angenommen): "es solle alles, was der Vernunft nicht entgegen sei, als seine wahre Lehre angesehen werden". Später wurde behauptet, Sâkjamuni habe seine Vorträge den geistigen Fähigkeiten seiner Zuhörer angepaßt und dieselbe Lehre oft in verschiedener Weise vorgetragen, wodurch ihr "wahrer Sinn" zweifelhaft geworden sei. Das Suchen nach dem wahren Sinn bildet nun die Aufgabe aller Schulen, die auf der von Sâkjamuni geschaffenen Grundlage, alle in seinem Sinn, weiterbauen wollen, und der Erklärung und Deutung war um so größerer Spielraum geboten, als Sâkjamunis Worte erst im 3. Jahrh. v. Chr. aufgezeichnet wurden. Die Buddhisten selbst gruppieren alle Schulen folgendermaßen: 1) Diejenigen Schulen, welche Moralität sowie die Beachtung eines tugendhaften Lebens und das Nachdenken über die Gründe des Seins für genügend hielten und sich darauf beschränkten, das von Sâkjamuni Gelehrte weiter auszuführen, sind die Schulen des "kleinen Fahrzeugs", die Hinâjanisten. 2) Der Ausdruck "des großen Fahrzeugs (Mahâjana) sich bedienen" wird für diejenigen gebraucht, welche behaupten, Tugend allein reiche nicht aus zur Erkenntnis, Meditation sei unumgänglich notwendig; diese Schulen nehmen auch an, die Meditation erzeuge besondere übernatürliche Kräfte. Erst im 2. Jahrh. v. Chr. soll diese Doktrin durch Nâgârdschuna als besonderes System formuliert worden sein. Die Lehren dieser beiden Schulen wurden in Süd- und Nordindien entwickelt. 3) Der Mystizismus, Kalatschakra ("Zeitrad") im Sanskrit genannt, ist in Zentralasien entstanden, nach Indien über Kaschmir eingeführt und hier erweitert worden. Nach ihm genügen auch Tugend und Meditation nicht mehr, wenn nicht mit übernatürlicher Kraft begabte Wesen ihre Hilfe gewähren, indem sie belehren, noch bestehende Zweifel entfernen und die Schwierigkeiten beseitigen, welche der Erreichung des Ziels von bösen Dämonen drohen. Ihre Hilfe wird durch Gebete, Opfer und Zeremonien erlangt. Im Mystizismus, welcher insbesondere in seinem Ritual erst im 9. Jahrh. n. Chr. seine Ausbildung erhielt, verließ der B. den ursprünglichen Weg, auf welchem der Mensch durch Selbstvervollkommnung zum Höchsten sich erheben sollte.

Jede neue Lehre ist bei ihrem ersten Auftreten reiner und sorgfältiger in ihren Glaubenssätzen als später; beim B. fand die Anerkennung übernatürlicher Kräfte als Götter und die Behauptung von der Notwendigkeit ihrer Mitwirkung zu den Zwecken der Menschen um so leichter Eingang, als indische Priester dem Volksaberglauben zu jeder Zeit Rechnung trugen. Solange der B. in Indien, seinem Ursprungsland, Anhänger zählte, bestanden die drei Systeme nebeneinander; die verschiedenen Schulen suchten einander in öffentlichen Disputationen zu widerlegen und gerieten auch in wirklichen Streit. Im 7. Jahrh. n. Chr. zählte das Mahâjana die meisten Anhänger, und die Prasangaschule war darin die einflußreichste. Der Mystizismus erhielt jedoch die Oberhand und weitere Ausbildung, als die Lehre über Indien hinaus sich verbreitete.

Besonders beachtenswert ist die Entwickelung, welche Buddhas Lehre in Tibet fand; neun Zehntel aller Buddhisten der Gegenwart dürften dem B. in der