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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1864-1865. Erwerbung Schleswig-Holsteins).

Dies Verfahren erregte in D. allgemeine Entrüstung, da man Bismarcks eigentliche Absichten nicht begriff. Indem das preußische Abgeordnetenhaus jede Verständigung mit der Regierung über die schleswig-holsteinische Frage grundsätzlich ablehnte, die geforderten Geldmittel verweigerte und die Resolution faßte, einer solchen deutsche Interessen preisgebenden Politik mit allen gesetzlichen Mitteln entgegentreten zu wollen, beraubte es Bismarck der Gelegenheit, das Haus über seine Pläne aufzuklären. Man glaubte nicht anders, als daß Österreich und Preußen ihr Verfahren von 1850-51 wiederholen würden und die Bundestruppen nur beiseite schöben, um die Herzogtümer wie damals wehrlos an Dänemark auszuliefern. Der Sechsunddreißiger-Ausschuß forderte geradezu zum Kriege gegen Österreich und Preußen auf, um sie an diesem Verrat zu hindern. Daß Bismarck sich auf den Boden des Londoner Protokolls stellte, um den Mächten jeden Vorwand zur Intervention zu benehmen, daß er die schwerfällige Bundesexekution beseitigte, um die Dinge zu einer raschen Entscheidung zu bringen und vor allem einen allgemeinen Krieg zu verhüten, ahnten wenige. Denn niemand hielt es für möglich, daß Dänemark im Vertrauen auf fremde Hilfe so hartnäckig sein würde, selbst die Novemberverfassung nicht ändern zu wollen.

Auch der glückliche Fortgang des schleswig-holsteinischen Kriegs, die Eroberung der Düppeler Schanzen (18. April) und die Besetzung eines großen Teils von Jütland, besänftigte die erzürnten Gemüter nicht ganz. Erst als auf der Londoner Konferenz, wo auch der Deutsche Bund durch einen besondern Gesandten, Beust, vertreten war, Dänemark alle Vermittelungsvorschläge hartnäckig zurückwies und die deutschen Mächte sich vom Londoner Protokoll lossagten und gänzliche Trennung der Herzogtümer und Einsetzung des Herzogs von Augustenburg forderten, schwand das Mißtrauen im Volk gegen die geheimen Pläne der Großmächte. Am 1. Aug. kamen bereits die Friedenspräliminarien mit Dänemark und 30. Okt. der Wiener Friede zu stande, in welchem Dänemark beide Herzogtümer nebst Lauenburg gemeinsam an Österreich und Preußen abtrat; die Herzogtümer übernahmen eine Quote der dänischen Staatsschuld (29 Mill. Reichsthaler) und sollten den beiden Mächten für die Erstattung der Kriegskosten haften. Daß die Mächte sich die Erstattung ihrer Kosten vorbehielten, daß besonders Preußen von dem neuzubegründenden Mittelstaat gewisse Zugeständnisse für seine militärische und maritime Machtstellung verlangte, erschien selbstverständlich, und Preußen würde in einem großen Teil des Volkes, welcher sich für das immerhin zweifelhafte Erbrecht des Augustenburgers nur deshalb erwärmt hatte, weil es der einzige Rechtsboden für die vollständige Losreißung der Herzogtümer von Dänemark zu sein schien, jetzt, nachdem dieses Ziel auf anderm Weg erreicht war, auch für seine weiter gehenden Annexionspläne Sympathien gefunden haben, wenn nicht der Verfassungskonflikt noch immer bestanden hätte. Das Abgeordnetenhaus gefiel sich in einer kleinlichen Opposition gegen Bismarcks so erfolgreiche auswärtige Politik, die Regierung anderseits mochte sich auch nicht zum kleinsten Zugeständnis in der Militärfrage verstehen. Die heftigsten Gegner der preußischen Forderungen auf gewisse Oberhoheitsrechte in Schleswig-Holstein waren die Mittelstaaten, einmal, weil ein solches Verhältnis eines deutschen Staats zu Preußen ein gefährliches Präjudiz abgegeben und die Unionspolitik wieder ins Leben gerufen hätte, dann, weil sie in ihrem Selbstbewußtsein durch die Beiseiteschiebung der Bundesexekution und die Ende 1864 von den Mächten geforderte und auch erzwungene Räumung Holsteins von seiten der sächsischen und hannöverschen Exekutionstruppen auf das empfindlichste gekränkt waren.

Eine offene Opposition gegen Preußen wagten die Mittelstaaten 1864 noch nicht, denn gerade damals bedrohte sie Preußen mit Auflösung des Zollvereins, wenn sie bei ihrer Opposition gegen den französischen Handelsvertrag beharrten, und zwang sie zur Unterwerfung. Überdies hatten sie sich noch nicht mit Österreich verständigt. Aber auf ihren Antrieb geschah es, daß der Augustenburger die preußischen Forderungen, die Bismarck ihm in einer persönlichen Unterredung vorlegte, anzunehmen sich weigerte. Bismarck faßte nun die Erwerbung der Herzogtümer für Preußen ernstlich ins Auge: eine Adresse von preußischen Konservativen (11. Mai 1864) und eine andre von schleswig-holsteinischen Prälaten und Rittern verlangten einen möglichst engen Anschluß an Preußen. Die Ansprüche des Großherzogs von Oldenburg wurden gegen die augustenburgischen ins Gefecht geführt, und ein Gutachten der preußischen Kronjuristen erklärte die letztern überhaupt für unberechtigt, da die frühere Verzichtleistung des Vaters des Herzogs Friedrich noch zu Recht bestehe, daß also König Christian IX. der berechtigte Erbe gewesen und durch den Wiener Frieden die beiden Mächte in dessen Recht eingetreten seien. Zwar erhoben sich nicht bloß die Mittelstaaten gegen diese Deduktion, auch die Bevölkerung Schleswig-Holsteins sprach sich in überwiegender Majorität für die Selbständigkeit des Landes aus, und der deutsche Liberalismus, der im Sechsunddreißiger-Ausschuß sein Organ hatte, forderte vor allem Berufung der schleswig-holsteinischen Stände, um das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung den Schleswig-Holsteinern zu wahren. Indes das Wichtigste für Preußen war die Auseinandersetzung mit dem Mitbesitzer Österreich, und so spitzte sich die schleswig-holsteinische Frage ebenso wie die deutsche zu einer Machtfrage zwischen den beiden Großmächten zu.

Österreich erkannte allmählich, daß es einen Fehler begangen hatte, als es sich in der schleswig-holsteinischen Frage von den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, die es eben noch unter seiner Hegemonie hatte vereinigen wollen, trennte und aus Rücksicht auf seine Stellung als europäische Großmacht sich der preußischen Politik anschloß. Der Besitz Schleswig-Holsteins war ihm wertlos, ein territoriales Äquivalent von Preußen nicht zu erlangen, und die von diesem angebotene Allianz und Garantie seiner Besitzungen glaubte es entbehren zu können. Nachdem Graf Rechberg Ende Oktober 1864 durch einen Militär, Mensdorff-Pouilly, ersetzt worden war, suchte dieser sich durch Begünstigung des Augustenburgers mit den Mittelstaaten zu verständigen und die Entscheidung in der Frage dem Bund in die Hände zu spielen. Am 5. Dez. 1864 schlug Österreich in Berlin vor, die Lande nunmehr thatsächlich dem Herzog Friedrich als dem bestlegitimierten Prätendenten zu übergeben und die Entscheidung über die übrigen Rechtsansprüche dem bundesmäßigen Austrägalgericht zu überweisen. Preußen lehnte das ab. Anderseits wies Österreich die in einer preußischen Note vom 22. Febr. 1865 zusammengefaßten Bedingungen zurück, unter welchen Preußen allein die Errichtung eines selbständigen holsteinischen Staats gestatten wollte. Nicht ohne Zuthun Österreichs beschloß der Bundestag 6. April 1865