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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Exkremente

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Exkremente (Liernursches System).

sorgfältig an dieselbe angeschlossen. An jeder Tonne ist für den Fall des Überlaufens ein Röhrchen angebracht, unter dem sich ein Blecheimer befindet. Zur Entfernung der Tonnengase dient ein Dunstrohr, welches die Verlängerung des Abfallrohrs bis über das Dach hinaus bildet oder in einem besondern, neben dem Küchenkamin angebrachten Ventilationsschacht besteht, der durch ein Seitenrohr mit dem Abfallrohr in Verbindung gesetzt ist. Die Tonnen bestehen aus Holz, verzinntem oder angestrichenem Eisenblech und müssen für den Transport leicht und vollkommen verschließbar sein. Diese Einrichtung kommt vielfach modifiziert zur Anwendung; der Siphon ist jedoch in kältern Gegenden nicht anwendbar. Oft findet man auch die Einrichtung des Wasserklosetts, und bei manchen Konstruktionen ist schon im Trichter für Trennung der festen und flüssigen E. gesorgt.

Boden, Wohnräume, Flüsse etc. werden beim Tonnensystem nicht verunreinigt, die E. gewinnt man im frischen Zustand (Tonnenwechsel nach 2, 3, 4 oder 5 Tagen) und kann sie bei Epidemien leicht desinfizieren und schnell beseitigen. Nach vollendeter Einrichtung gewährt das Tonnensystem Verzinsung und Amortisation des Anlagekapitals; nur bei großen Städten kann eine Ausnahme eintreten. Dagegen ist freilich die Erreichung dieser Vorteile teilweise abhängig von dem guten Willen der Bewohner, resp. von der Durchführung der erforderlichen polizeilichen Vorschriften. Ferner dürfen durch die Tonnen nur die menschlichen E. aus Wohnung und Stadt entfernt werden, so daß für Beseitigung aller übrigen Abfälle noch anderweitige Einrichtungen erforderlich sind, einfache Kanäle für die flüssigen Abfälle und besonderes Abfuhrsystem für Asche, Küchenabfälle, Straßenkehricht, die übrigens mit den Exkrementen vorzüglichen Kompost liefern. Große Bedenken erregt beim Tonnensystem das Abfallrohr, welches stets verunreinigt wird und sich zu einem Herde der Verpestung für das ganze Haus gestalten kann. Der direkte Absatz der E. an die Landwirtschaft erleidet periodisch Stockungen, und man ist daher zur Magazinierung gezwungen. Bei Stuttgart und Dresden sind zu dem Zweck große, überwölbte Reservoirs gebaut worden, an andern Orten werden die E. außerhalb der Stadt mit Haus-, Straßenkehricht, Asche, Torfabfällen kompostiert, und bei guter Beschaffenheit der E. können sie auf Poudrette verarbeitet werden.

Um die Fäulnis der E. in den Gruben oder Tonnen zu verhindern oder zu vermindern, hat Moule das Aufstreuen trockner Erde empfohlen (Erdklosett). Nach Versuchen, die im Berliner Arbeitshaus angestellt wurden, sind 3,5 kg Erde pro Stuhlgang erforderlich, und selbstverständlich hat die so erhaltene Masse nur geringen Dungwert. Für große Städte ist das Verfahren wegen der bedeutenden Massen von Erde, die transportiert werden müssen, ganz unanwendbar; auf dem Land kann es in Ermangelung von etwas Besserm als einigermaßen zweckentsprechend bezeichnet werden. An andern Orten, namentlich in Rochdale, benutzt man in ähnlicher Weise gesiebte Steinkohlenasche, wobei so viel halbverbrannte Kohlen- und Koksstückchen gewonnen werden, daß die Arbeit sich bezahlt macht. Auch die hohe wasserbindende Kraft des Torfs hat man in ähnlicher Weise verwertet, und bei Anwendung einer besonders geeigneten Sorte sollen 100 g desselben bei jedesmaligem Gebrauch genügen, so daß man eine bei weitem wertvollere Masse erhält als bei Anwendung von Erde. Die Torfpoudrette bereitet bei der Abfuhr nicht die mindesten Unannehmlichkeiten. Mehrfach sind Klosette mit Mechanismus zu automatischem Aufstreuen von Torfpulver oder Desinfektionsmischungen konstruiert worden, von denen aber manche nur bei sehr sorgfältiger Bedienung befriedigend funktionieren.

Wesentliche Vorzüge vor dem Tonnensystem besitzt das pneumatische oder Differenziersystem von Liernur, welches die E. getrennt von den sonstigen häuslichen Abfällen vermittelst Luftdrucks abführen will. Es sind hier also zwei Rohrsysteme erforderlich. Das eine, für Haus-, Regenwasser etc., besteht aus glasierten Thonrohren und führt auf kürzestem Weg in den Fluß. Das Wasser wird durch ein ganz seines Drahtnetz aus Messing filtriert, und eine eigenartige Vorrichtung verhindert die Verstopfung desselben; für das klare Wasser aber genügen engere Rohre, während Einsteigeschächte, Spülthüren, Stauvorrichtungen etc., wie sie bei der Kanalisation notwendig sind, überflüssig werden. Das zweite Rohrsystem, aus eisernen Rohren, verbindet sämtliche Aborte und Pissoirs der Stadt mit Kesseln, welche von einer Zentralstation aus luftleer gepumpt werden. Von einem solchen, 2 und mehr Kubikmeter fassenden Kessel laufen den Straßen des betreffenden Stadtviertels entlang sogen. Hauptrohre, welche rechts und links nach den Häusern hin mit Abzweigungen versehen sind, in welche die Fallrohre der Aborte einmünden. Sobald man nun den Hahn des Hauptrohrs öffnet, wird durch den äußern Luftdruck der Abortinhalt in den Kessel gedrückt und gelangt von hier schließlich nach der Zentralstation. Dort sammelt man die E. in Gruben, um sie in reinem Zustand an die Landwirte zu verkaufen, oder man verdampft ihren Wassergehalt im luftverdünnten Raum, bis ein dicker Brei entsteht, den man durch langsam rotierende Bürsten auf mit Dampf geheizte kupferne Walzen in dünnen Lagen aufträgt. Während die Walzen sich langsam umdrehen, trocknet die Masse und wird durch eine andre kleine, mit Spitzen besetzte Walze, welche neben der großen Trockenwalze liegt, von dieser abgelöst und in seines Pulver verwandelt. Die auf diese Weise erhaltene Poudrette kann wie Guano in den Handel gebracht werden. Das Liernursche System ist in Amsterdam, Leiden und Dordrecht zur Ausführung gekommen. Es hat sich an dasselbe eine sehr lebhafte Agitation geknüpft, und während es von der einen Seite als "das vollkommenste System der Städtereinigung" bezeichnet wird, urteilen andre sehr viel weniger günstig. Vor dem Tonnensystem hat das Liernursche System den Vorzug, daß die Stoffe ohne Belästigung der Hausbewohner und des Straßenverkehrs entfernt werden. Es teilt mit ihm die Luftverunreinigung, wenn es nicht mit Wasserspülung versehen wird, und wenigstens in größern Städten die Notwendigkeit der Poudrettefabrikation; es steht ihm nach in der Kostspieligkeit der Anlage und der Betriebsstörungen. Der Betrieb soll sich für große Städte etwas billiger stellen als der des Tonnensystems, die Verwertung der erhaltenen E. wird aber wohl immer schwieriger sein als bei Tonnenabfuhr, da sich bei letzterer, wie die Erfahrung zeigt, ein übermäßiger Wasserzusatz leichter vermeiden läßt. Das von dem Thonrohrsystem gelieferte Wasser enthält stark fäulnisfähige Küchenabfälle und stets auch Harn, so daß ein prinzipieller Unterschied zwischen demselben und dem des Schwemmsystems nicht besteht. Man wird es also auch wie letzteres behandeln müssen, wenn nicht ein großer Fluß auf kürzestem Weg erreichbar ist, welcher das Wasser ohne Schaden aufnehmen kann. Liernur will dies Wasser zur Berieselung benutzen, die ganz