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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Genf

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Genf (Stadt; Geschichte der Stadt und des Kantons).

Die Stadt Genf.

Die Stadt G. am Ausfluß des Rhône aus dem Genfer See ist das "schweizerische Paris". Der belebte See mit seinen reizenden Ufern, der Wasserschwall des klargrünen Stroms, die Firsten der Jurakette im N., der schroffe Salève im S., dahinter die Firne des Montblanc, dazu die stolze Stadt selbst, das rege öffentliche und wissenschaftliche Leben, der Reichtum, die Eleganz: das alles macht G. zu einem der reizendsten Plätze des Erdbodens, und darum auch ist es schon lange der Aufenthalt vieler Fremden von Rang und Bedeutung. Die stärkere Stadthälfte (la vieille Cité), der Sitz der vornehmen Bevölkerung, ist auf dem steilen linken Ufer erbaut; gegenüber, auf flacherm Gelände, liegt St.-Gervais, jetzt aus einem sonst unansehnlichen Arbeiterviertel erweitert und verschönert. Der enge und bei den hoch getürmten Häusermassen ziemlich finstere Stadtkern hat neuerdings durch Schleifung der Festungswerke und Abdämmungen des Sees ganz außerordentliche Erweiterungen erhalten und ist mit neuen Straßenreihen und Stadtteilen ausgestattet worden. Nach Carouge und Chêne führen Pferdebahnen. In dem Rhône liegt das Quartier l'Ile, welches durch Brücken mit den beiden Uferstädten in Verbindung steht. Unter den sechs Rhônebrücken ist die neue, prächtige, in zwölf leicht geschwungenen Bogen übersetzende Montblancbrücke dem See am nächsten. Zwischen dieser und dem Pont des Bergues, von letzterm aus zugänglich und eine kostbare Aussicht über den See, die beiden Uferseiten und das Gebirge darbietend, liegt die von Bäumen überschattete Rousseau-Insel, wo eine Bildsäule von Pradier an den Philosophen erinnert. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören, außer den großartigen neuen Stadtteilen und Kais beider Ufer und außer manchen Privatpalästen, der St. Petersdom, die Kirche Notre Dame, das Rathaus, der botanische Garten, das neuerbaute Athenäum (für permanente Gemäldeausstellungen), der Englische Garten, das nach seinem Gründer benannte Musée Rath mit Kunstschätzen, das nach dem Vorbild der Neuen Oper in Paris erbaute Theater (1879), das Kantonsspital, das Nationaldenkmal von Dorer (1871) zum Andenken an die Vereinigung des Kantons G. mit der Schweiz das Reiterstandbild des Herzogs Karl von Braunschweig von Cain (1879, im Jardin des Alpes) und des Generals Dufour (Place neuve), das Hôtel des Bergues auf dem rechten, das Hôtel de la Métropole auf dem linken Ufer, die neue großartige Machine hydraulique inmitten des Rhône, welche mittels 20 Turbinen die Stadt mit Wasser versieht. Der erwähnte, den Reformierten gehörende Dom St.-Pierre, mit drei Türmen, liegt auf dem höchsten Punkte der Cité und wurde 1124 im Übergangsstil vollendet, im 18. Jahrh. jedoch durch geschmacklose Anbauten verunstaltet; er enthält im Innern gute Holzschnitzereien und die Grabmäler des Herzogs von Rohan (Chefs der Protestanten unter Ludwig XIII.) und des Agrippa d'Aubigné (des Freundes Heinrichs IV.). Unter den Privatgebäuden bieten das ehemalige Wohnhaus Calvins (Rue Calvin) und das Geburtshaus Rousseaus (Grande Rue) das meiste Interesse. Erwähnung verdient auch das 13 m lange, 0,8 m hohe, in Lindenholz geschnitzte Montblancrelief im Englischen Garten, eine Arbeit von Sené. Die Stadt zählt (1880) 50,043, mit den Vorstädten Plainpalais und Eaux Vives 68,328 Einw. Dem Reichtum der Stadt entsprechend ist die Zahl der wohlthätigen Anstalten, die zum Teil städtisch (wie das große Bürgerhospital, das, mit einem Fonds von 3½ Mill. Fr. dotiert, jährlich an 800 Personen verpflegt, das Irrenhaus, die Anstalt für Unheilbare, die neue Waisenanstalt u. a.), zum großen Teil auch Privatanstalten sind. Wie ehedem, ist auch heute noch G. die Burg des Protestantismus für die Schweiz und die westlich und südlich angrenzenden Länder, und es zeugen für den keineswegs erkalteten religiösen Eifer die vielen Sekten und die vielen religiösen Gesellschaften.

Geschichte der Stadt und des Kantons Genf.

G. (Genava) erscheint zuerst in der Geschichte als befestigte Grenzstadt der Allobroger gegen die Helvetier und gelangte mit jenen um 120 v. Chr. unter die Herrschaft der Römer. Von G. aus hinderte Cäsar 58 v. Chr. den Übergang der Helvetier über den Rhône. Früh drang das Christentum von Lyon her in die Stadt, welche angeblich schon 381 Sitz eines Bischofs wurde. 443 fiel G. an die Burgunder und wurde eine ihrer Hauptstädte; 532 kam es mit Burgund an die Franken, 888 an das neuburgundische und 1032 mit diesem an das Deutsche Reich. Frühzeitig erlangten die Bischöfe der Stadt ihre Befreiung von der Gerichtsbarkeit der Grafen des Genfer Gaues (pagus genevensis, Genévois), und Friedrich Barbarossa erkannte sie förmlich als Fürsten von G. an (1162); doch hatten sie stets gegen die Übergriffe der Grafen von G. zu kämpfen, bis diese durch die mächtigern Grafen von Savoyen beiseite geschoben wurden, welche 1290 das Recht erlangten, den "Vidomne" (vicedominus) zu setzen, der im Namen des Bischofs den weltlichen Bewohnern der Stadt Recht sprach. Um dieselbe Zeit legte die Genfer Bürgerschaft den Grund zu ihrer Freiheit, indem sie sich einen Rat mit "Syndiken" an der Spitze gab, eine Organisation, die der Bischof 1309 anerkannte; 1364 besaß sie schon den Blutbann. Nachdem aber das Haus Savoyen durch das Erlöschen der Grafen von G. in den Besitz der Landschaft Genévois gekommen war und den Herzogstitel erlangt hatte (1416), trachtete es danach, die Stadt, die gleichsam den Schlußstein seines den Genfer See umgebenden Gebiets bildete, ganz in seine Gewalt zu bringen. Die Gefälligkeit der römischen Kurie ermöglichte es den Herzögen, den Bischofsstuhl gegen Ende des 15. Jahrh. mit jüngern Söhnen oder Bastarden ihrer Familie zu besetzen; aber an dem Freiheitssinn der Genfer Bürgerschaft scheiterten alle ihre Anschläge. Der patriotische Verein der "Kinder Genfs" (enfants de Genève) suchte, geleitet von Philipp Berthelier, Bezanson Hugues und Bonivard, gegen die Gewaltthaten Herzog Karls III. (1504-53) Rettung durch Anschluß an die Eidgenossenschaft. Als sich Freiburg 1519 zu einem Bündnis bewegen ließ, gelang es dem Herzog, die Schweizer Tagsatzung zur Aufhebung desselben zu bewegen, worauf er G. mit Truppen besetzte. Zwar mußte er es vor den Drohungen Freiburgs bald wieder räumen. Allein der Bischof gab sich zum Werkzeug des Herzogs her, Berthelier wurde enthauptet, und mehrere Jahre lastete die Tyrannei Savoyens auf der Stadt, bis es dem entflohenen Bezanson Hugues gelang, außer Freiburg auch Bern 11. März 1526 zu einem Bund mit G. zu gewinnen. Als nunmehr die Bürgerschaft die Gewalt des Vidomne und Bischofs nicht mehr anerkannte, verließ letzterer die Stadt, und diese wurde von dem "Löffelbund", einer

^[Abb.: Wappen von Genf.]