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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gervinus

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Gervinus.

Gervinus, Georg Gottfried, ausgezeichneter Geschichtschreiber, geb. 20. Mai 1805 zu Darmstadt, erhielt seine wissenschaftliche Vorbildung auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt, trat 1819, der Schule überdrüssig, in einer Buchhandlung zu Bonn, bald darauf in einem Tuchgeschäft zu Darmstadt in die Lehre, widmete sich aber daneben mit Eifer ästhetischen und litterargeschichtlichen Studien und neuern Sprachen und wandte sich 1824 dem gelehrten Beruf zu. Er holte die versäumte Schulbildung durch die fleißigsten Privatstudien nach, bezog 1825 die Universität Gießen und ging Ostern 1826 nach Heidelberg, wo die Vorlesungen Schlossers ihn zum Entschluß bestimmten, sich der Geschichte zu widmen. 1828 wurde er Lehrer an einem Erziehungsinstitut zu Frankfurt a. M., und zwei Jahre später habilitierte er sich mit einer kleinen Schrift über die "Geschichte der Angelsachsen" (Frankf. 1830) als Privatdozent in Heidelberg, begab sich aber bald darauf, ohne Vorlesungen begonnen zu haben, nach Italien, wo er ein Jahr zubrachte. 1833 gab er eine Sammlung kleiner historischer Schriften heraus und 1835 den ersten Band seiner "Geschichte der deutschen Nationallitteratur" (Leipz. 1835-42, 5 Bde.); spätere Auflagen führen den veränderten Titel: "Geschichte der deutschen Dichtung", die fünfte ist teilweise nach seinem Tod von K. Bartsch herausgegeben (das. 1871-74). Dieses Werk war auf dem betreffenden Gebiet epochemachend, denn G. ist der erste gewesen, welcher die deutsche Litteratur im Zusammenhang mit dem nationalen und politischen Leben und den gesamten Kulturzuständen aufgefaßt hat. Auf Dahlmanns Empfehlung wurde er 1835 als Professor der Geschichte und Litteratur nach Göttingen berufen, wo er Ostern 1836 sein Amt antrat. Bald darauf gab er die "Grundzüge der Historik" (Leipz. 1837) heraus, eine kleine, aber von ernstem Nachdenken zeugende Schrift. Seine glücklich begonnene Wirksamkeit in Göttingen nahm ein schnelles Ende infolge des von ihm und sechs andern Professoren unterzeichneten Protestes gegen die vom König Ernst August verfügte Aufhebung der hannöverschen Verfassung. Im Dezember 1837 abgesetzt und des Landes verwiesen, lebte er nun teils in Darmstadt, teils in Italien und ließ sich 1844 in Heidelberg nieder, wo er zum Honorarprofessor ernannt wurde und vielbesuchte Vorlesungen hielt. Dieselben machten, obgleich monoton abgelesen, alles Reizes eines freien Vortrags entbehrend, doch durch ihren gedankenreichen und sittlich erwärmenden Inhalt einen nachhaltigen Eindruck. Eine Frucht seiner Teilnahme an den damaligen Zeitinteressen waren seine zwei Flugschriften über "Die Mission der Deutschkatholiken" (Heidelb. 1846) und "Die preußische Verfassung und das Patent vom 8. Februar" (Mannh. 1847). Noch unmittelbarer bethätigte er sein Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten durch die 1847 in Verbindung mit Häusser, Mathy u. a. unternommene Gründung der "Deutschen Zeitung", die er ein Jahr lang redigierte und mit vielen trefflichen Leitartikeln ausstattete. Im Frühjahr 1848 wurde er von den Hansestädten als Vertrauensmann zum Bundestag gesandt und von einem sächsisch-preußischen Wahlbezirk in die Nationalversammlung gewählt; aber er beteiligte sich weder an dem Verfassungsentwurf der Vertrauensmänner noch an den Verhandlungen des Frankfurter Parlaments in hervorragender Weise; mit dem Gang der Dinge wenig einverstanden, trat er schon im August 1848 geistig und körperlich verstimmt aus dem Parlament aus und suchte Erholung und Erfrischung auf einer Reise nach Italien. Anfang 1849 von dort zurückgekehrt, schrieb er wieder eifrig Artikel für die "Deutsche Zeitung" über die Verfassungsfrage und trat energisch für die zweckmäßige Gestaltung der Zentralgewalt und die Selbständigkeit des Deutschen Reichs gegenüber Österreich ein. Nach der Auflösung der Nationalversammlung zog er sich von der Politik zurück und arbeitete ein größeres Werk über Shakespeare aus, dessen Dramen er einer historischen und psychologischen Analyse unterzog, wobei er aber vielfach einem allzu gesteigerten Shakespeare-Kultus huldigte ("Shakespeare", Leipz. 1849-52, 4 Bde.; 4. Aufl. mit Anmerkungen von Rudolf Genée, das. 1872, 2 Bde.). 1853 veröffentlichte er als Vorläufer eines größern Werkes die "Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts", welche wegen freisinniger Äußerungen in ihr verboten wurde, und ließ 1854 den ersten Band der "Geschichte des 19. Jahrhunderts" (Leipz. 1856-66, 8 Bde.) selbst folgen, welche mit dem Wiener Kongreß beginnt und das Streben der Völker nach Freiheit und Selbstherrschaft von dem Standpunkt des konstitutionellen Liberalismus aus schildert. Die ersten Bände fanden Beifall, obwohl das G. zu Gebote stehende urkundliche Material dürftig war und die Reflexion die geschichtliche Darstellung überwucherte. Das Interesse des Publikums erlahmte aber vom dritten Band ab, der die Revolution in Südamerika mit ermüdender Breite behandelte, und konnte auch nicht durch die Schilderung des griechischen Freiheitskampfes und der deutschen und französischen Geschichte bis 1830 wieder belebt werden. Die Katastrophe des Jahrs 1866, welche das von G. so ersehnte Ziel der politischen Einheit Deutschlands auf einem ganz andern Weg näher rückte, namentlich die preußischen Annexionen, verstimmte ihn tief; er sah der weitern Entwickelung der Dinge nur mit Erbitterung gegen Preußen und mit Groll über seinen großen Staatsmann, der sich so gar nicht an die Vorschriften politischer Doktrinäre hielt, zu. Dieser Stimmung gab er selbst nach Beginn des Kriegs gegen Frankreich Ausdruck in der vom November 1870 datierten Vorrede zum ersten Band einer neuen Auflage seiner "Geschichte der deutschen Dichtung". Der Ärger über den Gang der deutschen Politik untergrub seine ohnehin erschütterte Gesundheit, er starb nach kurzer Krankheit 18. März 1871 in Heidelberg. Seine Ansichten über die politischen Dinge seit 1866 hat er selbst noch weiter ausgeführt in zwei nach seinem Tod von seiner Witwe (geb. Schalver) herausgegebenen Aufsätzen: "Denkschrift zum Frieden an das preußische Königshaus" und "Selbstkritik" ("Hinterlassene Schriften", Wien 1872). Die letzte größere Arbeit, die er veröffentlichte, war ein Buch über "Händel und Shakespeare. Zur Ästhetik der Tonkunst" (Leipz. 1868). Nicht unerwähnt darf bleiben sein "Nekrolog Friedrich Christoph Schlossers" (Leipz. 1861), worin er seinem alten Lehrer ein Denkmal persönlicher Freundschaft setzte und sich über die Aufgaben des Geschichtschreibers aussprach. Die schriftstellerische Bedeutung von G. beruht in erster Linie auf seiner Litteraturgeschichte, an welcher die Kritik zwar mancherlei auszusetzen hat, die aber doch eine neue Bahn gebrochen und eine neue Grundlage für dieses Fach geschaffen hat und maßgebend für alle Spätern geblieben ist. Die Großartigkeit seiner Auffassung, welche das Ineinandergreifen der verschiedenen geistigen Gebiete vor Augen stellte, hat in die ganze Geschichtschreibung neues Leben gebracht. Auch darf man es ihm nicht vergessen, daß er durch seine ganze schriftstellerische