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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Geschichte

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Geschichte (Einteilung; Philosophie der Geschichte; Methode der Geschichtsforschung).

Die Universal- oder Weltgeschichte verarbeitet die in den Spezial- und Partikulargeschichten gewonnenen Ergebnisse zu einem nach räumlichen und zeitlichen Verhältnissen wohlgeordneten Ganzen. Sie soll uns die Zustände des gesamten menschlichen Geschlechts, wie sie sich im Lauf der Zeiten gestaltet haben, nach ihren wichtigsten Beziehungen und bedeutungsvollsten Erscheinungen kennen lehren und so gleichsam die Krone bilden, in welcher alle Strahlen geschichtlicher Darstellung zusammenfließen. Die Weltgeschichte ist hierdurch schon auf eine philosophische Betrachtungsweise hingewiesen, ja sie kann sich zu einer Philosophie der G. entwickeln, welche in der G. eine aufsteigende Entwickelungslinie nach einem bestimmten Ziel zu erkennen strebt. Diese teleologische Auffassung, als deren bedeutendste Vertreter Herder, Kant, Fichte, W. v. Humboldt, Hegel u. a. zu nennen sind, wird freilich von denen bekämpft, welche, wie schon Machiavelli, dann Hellwald, Schopenhauer, Hartmann u. a., die G. nur als einen im ewigen Kreislauf sich bewegenden Naturprozeß, als ein Spiel blinder Naturkräfte betrachten, während die religiöse Geschichtsbetrachtung in der G. nur Veranstaltungen Gottes sieht, um den Einzelnen zum Heil oder die Menschheit unter der Leitung der Kirche zur Einigung mit Gott zu führen. Eine neuere Richtung der Geschichtsphilosophie strebt danach, die Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Erscheinungen aufzusuchen und ihren Mechanismus zu studieren. Die Vertreter dieser letztern sind in Deutschland Herbart und Lazarus, in Frankreich Quételet und Comte, in England Stuart Mill und Buckle. Diese wissenschaftlichen Studien sind freilich noch in ihren Anfängen (s. unten Litteratur).

Schon aus dem Zweck der Universalgeschichte ergibt sich, daß nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der uns erhaltenen Nachrichten den Stoff der Weltgeschichte bilden kann; denn die Weltgeschichte hat nur von denjenigen Thatsachen Notiz zu nehmen, welche aus dem Kulturleben der Menschheit entweder direkt hervorgegangen sind, oder dasselbe unmittelbar betroffen, oder wenigstens mittelbar in günstiger oder ungünstiger Weise beeinflußt haben. Man pflegt diejenigen Völker, welche das Kulturleben der Menschheit vorzugsweise repräsentieren, im engern Sinn des Wortes geschichtliche Völker zu nennen. Soll nun die Weltgeschichte ein Bild der Menschheit vor uns aufrollen, so wird sie nicht umhin können, bei der besondern Entwickelung der Hauptvölker, solange sie Träger der menschlichen Kultur sind, zu verweilen und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in dem Kulturleben der Völker zur Darstellung zu bringen. Die Universalgeschichte zerfällt aber in zwei Hälften, in die alte und die neue. Der Grenzpunkt zwischen beiden, der natürlich nicht auf ein Jahr zurückgeführt werden kann, ist da zu suchen, wo das Christentum unter den die damalige Kultur repräsentierenden Völkern zur Herrschaft gelangt und damit die Entwickelung dieser Völker nach allen Beziehungen eine wesentlich andre Richtung erhält. Die neue G. teilt sich wieder in zwei Hälften, in die mittlere und in die neuere G. im engern Sinn, deren Scheidepunkt das Ende des 15. und der Anfang des 16. Jahrh. mit den damals eintretenden, die bestehenden Verhältnisse erschütternden und zum Teil umgestaltenden großen Weltbegebenheiten bildet. Keine dieser Perioden der G. bildet aber in dem Sinn ein für sich abgeschlossenes Ganze, daß die eine etwa ohne die Kenntnis der andern verstanden werden könnte; vielmehr ist die G. des menschlichen Geschlechts ihrer Natur nach nur eine einheitliche, jede Epoche derselben wird durch die ihr vorangehenden ebenso bestimmt, wie sie selbst die ihr folgenden bedingt. Die Einteilung der G. in Perioden hat daher eben nur den Zweck, die erdrückende Fülle des Stoffes in leichter zu übersehende, weil einen kleinern Zeitraum umfassende Gruppen zu sondern.

Die Bedeutung der G. für das praktische Leben leuchtet ein. Wie für den einzelnen Menschen, so ist nicht minder für jede Gesamtheit von solchen (für das Volk, den Staat, das Heer, die Kirche etc.) Selbsterkenntnis die erste Bedingung gedeihlicher Thätigkeit. Ein richtiges Bild ihrer selbst aber erlangt jede solche Gemeinschaft nur in dem Spiegel, den ihr die G. vorhält. Darum ist es das Studium der G., dessen vor allem der Staatsmann bedarf, den man mit Recht den praktischen Historiker genannt hat. Nicht in dem äußerlichen Sinn freilich darf der Staatsmann die G. studieren, um daraus Analogien zu ziehen, um unter gewissen gegebenen Verhältnissen etwa ebenso zu verfahren, wie man unter äußerlich ähnlichen (ihrem Wesen nach aber vielleicht grundverschiedenen Verhältnissen) einst mit Glück verfahren ist: das würde zu schädlichem Doktrinarismus in der Politik führen. Vielmehr ist für den Politiker das Verständnis der Gegenwart die erste Vorbedingung ersprießlicher Wirksamkeit, und ebendarum bedarf er der G., denn nur sie vermag ihm dies Verständnis zu gewähren.

Methode der Geschichtsforschung.

Die Thätigkeit des Geschichtsforschers beginnt mit der Herbeischaffung des historischen Materials, welches uns ermöglicht, die Vergangenheit zu verstehen. Dieses Material läßt sich in zwei große Klassen teilen. Entweder es ist aus jener Vergangenheit, mit welcher der Forscher sich beschäftigt, unmittelbar erhalten, ohne daß es in der Absicht geschaffen wurde, von dieser Vergangenheit spätern Geschlechtern Kunde zu geben (Überreste), oder es verdankt seine Entstehung der ausgesprochenen Absicht, der Nachwelt eine Überlieferung von dem Geschehenen zu geben (Quellen). Zwischen diesen beiden Klassen in der Mitte stehen die Denkmäler, welche Überreste und Quellen zugleich sind. Die Überreste können sehr mannigfaltiger Art sein. Zu ihnen gehören die Ruinen geschichtlich merkwürdiger Städte, wie die von Palmyra, Theben, Pompeji, die erhaltenen Kunstwerke alter Zeiten, die in Gräbern und an andern Orten gefundenen Waffen und Geräte, dann auch Gesetze, Volksrechte, Beschlüsse von Versammlungen und Behörden, ja alle aus der Vorzeit stammenden Sitten und Gebräuche eines Volkes als Produkte seines staatlichen und sozialen Lebens: ferner das, was uns von dem geistigen Leben eines Volkes, seiner Sprache, seiner Religion und seiner Litteratur erhalten ist. Und von welcher Bedeutung für die Erkenntnis des Kulturlebens einer Nation die Beschäftigung mit seiner Litteratur ist, das bedarf kaum einer weitern Ausführung. Daß zu den Überresten endlich auch die in den Archiven aufbewahrten Akten, Korrespondenzen, Gesandtschaftsberichte, Rechnungen etc. gehören, versteht sich von selbst. Allen diesen Überresten ist eins gemeinsam: sind sie überhaupt echt, so bedürfen sie nur des richtigen Verständnisses, um unmittelbar verwertbare, objektive Zeugnisse für die Vergangenheit zu sein, der sie entstammen.

Gerade dadurch unterscheiden sie sich von den Quellen, welche nicht die Dinge selbst, sondern nur eine subjektive, durch das Medium menschlicher Auffassung gehende und von ihm getrübte Überlieferung von den Dingen geben. Ob die Quellen mündlich oder schriftlich überliefert sind, ist kein prinzipieller Unterschied.