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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Herbart

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Herbart.

ordentlicher Professor nach Königsberg auf den Lehrstuhl Kants, wo er zugleich als Direktor des auf seinen Wunsch gegründeten pädagogischen Seminars thätig war. Da sein Wunsch, nach Hegels Tod nach Berlin berufen zu werden, sich nicht erfüllte, kehrte er 1833 nach Göttingen zurück, wo er 14. Aug. 1841 als Hofrat und ordentlicher Professor der Philosophie starb. Herbarts Hauptschriften sind nach chronologischer Folge: "Allgemeine Pädagogik" (Götting. 1806); "Allgemeine praktische Philosophie" (das. 1808); "Hauptpunkte der Logik und Metaphysik" das. 1808); "Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie" (Königsb. 1815, 5. Aufl. 1850); "Lehrbuch zur Psychologie" (das. 1816, 3. Aufl. 1850); "Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik" (das. 1824-25, 2 Bde.); "Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre" (das. 1828-29, 2 Bde.) und "Encyklopädie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten" (Halle 1831, 2. Aufl. 1841). Unter Herbarts kleinern Arbeiten sind hervorzuheben: "Pestalozzis Idee eines Abc der Anschauung" (Götting. 1802, 2. Aufl. 1804); "Kurze Darstellung eines Plans zu philosophischen Vorlesungen" (das. 1804); "De Platonici systematis fundamento" (das. 1805); "Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre" (1811); "Psychologische Untersuchungen über die Stärke einer Vorstellung als Funktion ihrer Dauer" (1812); "Theoriae de attractione elementorum principia metaphysica" (Königsb. 1812; deutsch von Thomas, Berl. 1859); "Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit" (1814); "Gespräche über das Böse" (Königsb. 1818); "Pädagogisches Gutachten über Schulklassen" (das. 1818); "Über die gute Sache; gegen Professor Steffens" (Leipz. 1819); "De attentionis mensura causisque primariis" (Königsb. 1822); "Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden" (das. 1822); "Umriß pädagogischer Vorlesungen" (Götting. 1835, 2. Aufl. 1841); "Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens" (das. 1836); "Psychologische Untersuchungen" (das. 1839, 2 Hefte); "Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral" (das. 1836) und "De realismo naturali, qualem proposuit Th. E. Schulzius" (das. 1837). Seine "Kleinern philosophischen Schriften und Abhandlungen" (Leipz. 1842 bis 1843, 3 Bde.) nebst einer biographischen Skizze gab Hartenstein heraus, der auch eine Ausgabe der "Sämtlichen Werke" (das. 1850-52, 12 Bde., neuer Abdruck, Hamb. 1883 ff.) besorgte. Eine neue Ausgabe der letztern, in chronologischer Ordnung, veranstaltete Kehrbach (Leipz. 1882 ff., 12 Bde.). Herbarts "Pädagogische Schriften" wurden herausgegeben von Willmann (Leipz. 1874-75, 2 Bde.) und von Bartholomäi (3. Aufl., Langensalza 1884, 2 Bde.). Über Herbarts Leben vgl. Ziller, Herbartsche Reliquien (Leipz. 1871); Rob. Zimmermann, Ungedruckte Briefe von und an H. (Wien 1877). Am 100jährigen Gedächtnistag seiner Geburt (4. Mai 1876) ist ihm in seiner Vaterstadt ein Denkmal (Kolossalbüste) gesetzt worden.

Herbarts Philosophie ist, wie die Fichtes, eine Tochter der Kantschen nach der realistischen, wie jene nach der idealistischen Seite derselben hin. Während der Idealismus von den beiden Faktoren, deren Produkt nach der Lehre des Kritizismus unsre gesamte Erfahrung ist, den objektiven (das Ding an sich) beseitigte und nur den subjektiven (das Ich) mit seinen angebornen Thätigkeitsformen behielt, sah H. die gesamte Erfahrung (der Materie und Form nach) als objektiv (vom Subjekt nicht gemacht, sondern demselben gegeben) an, daher sein System Realismus heißt. H. hat sich selbst (am Schluß der Vorrede zu seiner "Allgemeinen Metaphysik") einen "Kantianer" genannt, aber "vom Jahr 1828". Seine Philosophie hebt (wie die Kants) bei der Erfahrung an, bleibt aber weder bei derselben stehen (Empirismus), noch begnügt sie sich, den Ursprung und die Tragweite derselben zu untersuchen (Kritizismus), sondern unterwirft die durch dieselbe gegebenen Begriffe einer Bearbeitung, welche entweder deren Form oder deren Inhalt gilt. Aus jener geht die Logik, die daher nur eine formale sein kann, aus dieser gehen die beiden andern Hauptzweige der Philosophie, Metaphysik und Ästhetik, hervor. Erstere entsteht durch die Bearbeitung derjenigen Erfahrungsbegriffe, welche, weil unabweislich gegeben, nicht abgewiesen, aber zugleich, weil sie Widersprüche enthalten, so, wie sie gegeben sind, nicht behalten werden können, letztere durch die Bearbeitung derjenigen in der Erfahrung gegebenen Begriffe, welche im auffassenden Subjekt einen gemütlichen Zusatz (des Gefallens oder Mißfallens, der Billigung oder Mißbilligung) herbeiführen. Begriffe der ersten Art (metaphysische) bedürfen, da sie als gegeben gedacht werden müssen, als widersprechend aber nicht gedacht werden können, einer Ergänzung, um denkbar zu werden. Begriffe der zweiten Art (ästhetische) bedürfen, wenn sie allgemein gültige (der begleitende Zusatz ein allgemeiner und notwendiger, Gefallen oder Mißfallen unbedingt) sein sollen, der Zurückführung auf ihre ursprüngliche Evidenz, vermöge welcher sie klar sind, ohne bewiesen zu werden. Zu den metaphysischen Begriffen, welche Widersprüche einschließen und dadurch zu Problemen werden, gehören "das Ding mit mehreren Merkmalen", "die Veränderung", "die Materie" und "das Ich". Wie "der Rauch auf die Flamme", deutet der (in der Erfahrung) gegebene Schein auf (dahinter verborgenes) Sein, die Vielheit und Vielartigkeit desselben auf entsprechende Vielheit und Vielartigkeit des letztern. Der bunten Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt muß eine ebenso bunte Mannigfaltigkeit qualitativ verschiedener, obgleich ihrer Qualität nach unbekannt bleibender Seienden (einfacher Realen) zu Grunde liegen, deren Position "absolut", d. h. von der Setzung durch das wahrnehmende Subjekt unabhängig (gegen Fichte), ist. Diese, deren (streng einfache) Qualität (wie jene der chemischen Grundstoffe) unveränderlich, deren Inneres jedoch eines "wirklichen Geschehens" (der Selbsterhaltung gegen Störungen von seiten andrer) fähig ist, machen das wahre An-sich der Welt, das wechselnde Zusammen und Nichtzusammen, das mehr oder minder vollkommene Zusammen derselben macht den realen Grund des Wechsels und der Beschaffenheit der sinnenfälligen Erscheinungen der Erfahrungswelt aus. Das einzige dieser Realen, das wir aus eigner Erfahrung kennen, ist die menschliche Seele, deren Qualität einfach, deren Selbsterhaltungen die gleichfalls einfachen Empfindungen sind. Dieselben bilden, insofern sie als Selbsterhaltungen der Seele gegen andre Reale durch letztere verursacht sind, nicht nur diese selbst, sondern, insofern ihrer mehrere gleichzeitig oder nacheinander infolge des Zugleich- oder Nacheinanderseins mehrerer Realen verursacht sind, das Neben- und Nacheinander der letztern ab. Die Empfindungen als die einzigen wahrhaft elementaren Seelenzustände machen die Basis aller weitern Entwickelung des psychischen Lebens aus; die angeblichen "Seelenvermögen", welche Kant der Wolfschen Psychologie entlehnt und auf Fichte