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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hessen-Kassel

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Hessen-Kassel (Einverleibung in Preußen).

sage gemacht, daß das Budget ihnen stets rechtzeitig vorgelegt und keine Ausgabe ohne ihre Bewilligung gemacht werden solle. Dagegen blieben die Mißstände in der Verwaltung nach wie vor groß. Alljährlich sich wiederholende Defizits schädigten den Wohlstand, das immer tiefer einwurzelnde orthodoxe Luthertum unter der Ägide Vilmars Geist und Gemüt des Volkes mehr und mehr.

Die Wiederbelebung des öffentlichen Geistes in Deutschland 1859 bewirkte in Kurhessen den Beginn einer Agitation für Wiederherstellung der Verfassung von 1831, die diesmal von Preußen unterstützt wurde. Die Regierung versuchte einen Mittelweg einzuschlagen, indem sie auf Grund eines Bundestagsbeschlusses vom 24. März 1860 am 30. Mai eine neue Verfassung und ein neues Wahlgesetz erließ, die indes in allen wesentlichen Punkten der provisorischen Verfassung von 1852 völlig glichen. Das Volk ging in der Praxis auf die neue Verfassung ein, unter Vorbehalt seines unzerstörbaren Anrechts auf die von 1831. Demgemäß war die erste Handlung der weit überwiegenden Majorität der Kammer ein Protest gegen die Verfassung von 1860 (Anfang 1861), was wiederum eine sofortige Kammerauflösung herbeiführte. Das Einlenken des neuen Ministers des Innern, Volmar, der sich zu Verbesserungen der 1860er Verfassung bereit erklärte, scheiterte an der Prinzipientreue der neuen Kammer, die bald nach ihrer Eröffnung das Los ihrer Vorgängerin teilte (1. Juli 1861); der 8. Jan. 1862 brachte dasselbe Schauspiel bei der zum drittenmal zusammengetretenen Kammer. Da trat König Wilhelm I. von Preußen für das mit Füßen getretene Recht des hessischen Volkes auf, indem er Österreich für den am 8. März 1862 beim Bund gestellten Antrag gewann, bei der kurhessischen Regierung auf Wiederherstellung der alten Verfassung, vorbehaltlich der zur Übereinstimmung mit den Bundesgesetzen verfassungsmäßig zu vereinbarenden Abänderungen, hinzuwirken. Die Halsstarrigkeit des Ministeriums Volmar führte zur Anordnung der Kriegsbereitschaft des 4. und 7. preußischen Armeekorps und, als letztem Vermittelungsschritt, zur Sendung des preußischen Generals v. Willisen direkt an den Kurfürsten. Daraufhin verfügte der Bund die Sistierung der nach dem neuen Wahlgesetz in Hessen ausgeschriebenen Wahlen (Mai 1862) und die Wiederherstellung der Verfassung von 1831. Dennoch bedurfte es noch wiederholter Drohungen Preußens mit bewaffneter Okkupation, um den Kurfürsten zur Entlassung des Ministeriums Volmar und zum Erlaß der landesherrlichen Verkündigung vom 22. Juni 1862 zu bewegen, welche die Verfassung von 1831 in ihrer Wirksamkeit wiederherstellte. Doch auch jetzt gab das neue Ministerium Dehn-Rotfelser nur so weit nach, als es unter dem Druck preußischer Drohungen für absolut unumgänglich hielt. Es bedurfte noch der bekannten Sendung des preußischen Feldjägerleutnants vom 26. Nov. 1862, sechs Tage nach der Auflösung der Ende Oktober einberufenen Kammer, um die Regierung wirklich zum Einlenken in die seit 13 Jahren verlassenen verfassungsmäßigen Bahnen zu bestimmen. Dennoch war auf die Dauer eine Verständigung zwischen den Kammern und diesem Ministerium unmöglich und der Konflikt schon Ende 1864 wieder bis, zu einem Grad äußerster Spannung entwickelt, auf dem er sich bis 1866 erhielt.

Als damals der Konflikt zwischen Österreich und Preußen ausbrach, bekannte sich der Kurfürst äußerlich zu der Neutralität, zu der ihn die Lage seiner Lande Preußen gegenüber nötigte, blieb aber im übrigen entschlossen, im geeigneten Moment, gemeinsam mit den übrigen partikularistisch gesinnten Fürsten, seine Waffen gegen das verhaßte Preußen zu wenden. Insgeheim von Österreich her in seinen Neigungen bestärkt und durch Versprechungen ermutigt, erließ er 13. Juni plötzlich den Befehl zur Mobilmachung, stimmte 14. Juni am Bundestag für den Antrag Österreichs auf Mobilmachung der Bundesarmee und lehnte 15. Juni das preußische Ultimatum, welches ihm unter der Bedingung der Neutralität und des Eintritts in den künftigen neuen Bund seine Lande garantierte, ab. Die hessischen Truppen wurden in aller Eile nach Hanau geschickt. Am 16. Juni bereits rückte die preußische Division v. Beyer von Wetzlar aus in Kurhessen ein und besetzte 20. Juni Kassel. Der Kurfürst blieb inzwischen ruhig auf seinem Schloß Wilhelmshöhe. Dort stellte ihm der preußische General v. Röder 22. Juni das Ultimatum, sich ohne Bedingungen dem preußischen Reformprojekt vom 14. Juni anzuschließen. Erst auf seine nochmalige Weigerung wurde er am Abend des 23. Juni von Wilhelmshöhe über Berlin nach Stettin gebracht und dort als Staatsgefangener gehalten, bis über das Schicksal seines Landes entschieden war; hierauf begab er sich nach Österreich. Das besonnene und energische Vorgehen Beyers vermied einen Zusammenstoß mit den Resten der bald über die Landesgrenze weggeführten hessischen Truppen, von denen nur die Husaren an den Operationen des 8. Bundesarmeekorps gegen die Preußen teilnahmen. Hierauf ward eine preußische Landesverwaltung unter dem Regierungspräsidenten v. Möller eingesetzt.

Als die Annexion des Kurfürstentums von Preußen beschlossen war, gab es außer den Vilmarianern nicht viele in Hessen, welche das bisherige Regiment ungern für immer scheiden sahen. Allein die Selbständigkeit des Landes aufzugeben, zeigte sich auch nicht viel Lust; eine jahrhundertelange Entwickelung hatte die Sonderexistenz zu wert gemacht. Die Erklärungen der preußischen Regierung bei Einbringung der auf die Annexion bezüglichen Gesetzesvorlagen (17. Aug.) wirkten indes beruhigend, und die später im Land selbst entwickelte Thätigkeit, namentlich die des Oberpräsidenten v. Möller, ließ das Land über dem neuen Guten den Verlust der alten Selbständigkeit allmählich verschmerzen. Auch die Angelegenheit des sogen. Haus- und Staatsschatzes, der aus dem Blutgeld der nach Amerika verkauften Soldaten gebildet worden, fand ihre Erledigung. Die 1831 dem Land zugewiesene Hälfte desselben, deren Verwendung zum Besten des Landes die Kurfürsten stets verhindert hatten, wurde 16. Sept. 1867 dem kommunalständischen Verband des Regierungsbezirks Kassel überwiesen. Die dem kurfürstlichen Haus zustehende Hälfte des Schatzes, die zum Hausfideikommiß gehörte, wurde 1868 von Preußen mit Beschlag belegt und unter eine besondere Generalverwaltung gestellt. Noch bei Lebzeiten des Kurfürsten Friedrich Wilhelm (gest. 6. Jan. 1875) wurde aus den Einkünften desselben dem Landgrafen Friedrich, als dem ältesten Agnaten des Hauses H. und spätern Haupt der Linie H.-Kassel (gest. 14. Okt. 1884), Erhöhung seines Einkommens bis auf 606,000 Mk. zugesichert, und dieser Vertrag trat 1876 in Kraft; jetziger Chef der Linie ist Landgraf Friedrich Wilhelm (geb. 15. Okt. 1854). Die Verwaltung des Fideikommisses, dem auch das aus dem Nachlaß des Kurfürsten 1875 ausgelieferte Silberzeug zufloß, fiel 1. Jan. 1876 der Regierung in Kassel zu. Das Eigentumsrecht daran gehört der Krone Preußen, die aus den Einkünften außer jener an den Landgrafen