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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Juden

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Juden (in der Neuzeit).

Nach Italien brachte die bekehrungssüchtige Inquisition harte Judengesetze mit; für die jüdischen Schriften wurden nach Einführung der Zensur die Scheiterhaufen (z. B. in Rom, Venedig, Bologna 1553-60), für die J. selbst die Ghettos (s. oben) errichtet (zuerst Venedig 1516), in welchen sie mit wenigen Ausnahmen (Padua 1684) vom Pöbel unbehelligt wohnten. In der Schweiz, wo sie nur in einigen Kantonen geduldet wurden, sind sie aus Basel 1616, Appenzell 1622, Zürich 1634, Schaffhausen 1655 ausgewiesen worden. Peter I. ließ die J. in Rußland wieder zu, Elisabeth vertrieb sie (1743), Katharina II. gestattete nochmals ihre Ansiedelung. Die J. in Polen, welche während des Mittelalters aus Deutschland Zuwachs erhielten, waren zu Anfang des 17. Jahrh. politisch gut gestellt, vermittelten den Verkehr, trieben neben Ackerbau Gastwirtschaft, Handel und Handwerk, blieben unbehelligt von der Zensur und hatten eigne Gerichtsbarkeit. Furchtbar hatten sie während der Kosakenverfolgung unter Chmelnizky (1648-61) in Polen, Podolien, Wolhynien, der Ukraine und Litauen zu leiden. Vor den Schergen der Inquisition und andern Peinigern fanden Scheinchristen (s. oben) und J. in Frankreich (Bayonne und Bordeaux 1550) und in Holland Aufnahme, gründeten in den Niederlanden Gemeinden und wurden Mitbeförderer des blühenden holländischen Handels. In England fanden, auf Verwendung des gelehrten Menasse ben Israel (s. d.) aus Amsterdam bei Cromwell, J. wieder Aufnahme (1655), während auf der Pyrenäischen Halbinsel die Autodafees (Glaubensakte der Hinrichtung) für Ketzer und J. fortdauerten. Holländische J. wanderten 1642 nach Brasilien, englische 1639-64 nach Cayenne.

In Deutschland kamen der von der Reformation erzeugte freiere Geist und die Mahnung Luthers (in seiner 1523 erschienenen Schrift "Daß Christus ein geborner Jude sei"), die J. als Blutsfreunde und Brüder zu behandeln, christliche Liebe an ihnen zu üben, sich ihrer freundlich anzunehmen und sie mit werben und arbeiten zu lassen, den Unterdrückten so bald nicht zu gute. Man beschuldigte sie immer noch, Hostien geschändet (Joachim von Brandenburg ließ deshalb 1510 in Berlin 30 J. verbrennen und verwies alle andern seines Landes) und Christen gemordet zu haben, nahm nur eine beschränkte Zahl auf und vertrieb die andern oder duldete sie an manchen Orten gar nicht. Die Zünfte und viele Handelszweige blieben ihnen immer noch verschlossen, die lästigsten und entehrendsten Gesetze behielten Rechtskraft, und die mannigfachsten Abgaben (über 60 verschiedene Steuern) wurden von ihnen erhoben. Trotz des von Karl V. ihnen gewährten Reichsschutzes wurden sie 1551 aus Bayern, 1555 aus der Pfalz, 1573 aus der Mark, 1670 aus den österreichischen Erblanden vertrieben. Die österreichischen J. wurden in der Mark von Friedrich Wilhelm II. 1671 aufgenommen. Unduldsame Judenordnungen finden sich noch bis in die Mitte des 18. Jahrh., so in Preußen 1730 und 1750, in Bayern 1732, Dresden 1746 und 1772, Leipzig 1682 und in Österreich 1755. Der Anfang ihrer geistigen und politischen Befreiung fällt in das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts. Moses Mendelssohn (s. d.) hat durch seine litterarische Thätigkeit zur geistigen Hebung der J. ungemein viel beigetragen; er hat in einer Zeit, in welcher bereits die Philosophie für die Freiheit der Menschheit eingetreten war, mit gleichgesinnten Freunden, wie Dohm und Lessing, unermüdlich für ihre Besserstellung gearbeitet und durch sein Wirken Emanzipationsbemühungen in Deutschland, Frankreich, England und den Niederlanden angeregt. Die Zeitverhältnisse waren diesen Bemühungen günstig. Die französische Nationalversammlung, in der Mirabeau für die J. sprach, proklamierte diese 1791 als französische Bürger. Napoleon hat durch die Einberufung einer Notabelnversammlung unter dem Vorsitz Furtados (1806) und die Bildung eines aus 71 Personen bestehenden Synedrions, dem David Sinzheim präsidierte, ihre Verhältnisse geregelt. Ist ihr Bürgerrecht auch vorübergehend beschränkt worden (1808), so ist es doch während der Revolutionszeiten (1830 und 1848) nicht geschmälert, sondern erweitert worden (Gleichstellung der Rabbiner mit den übrigen Geistlichen). Gleiche Fortschritte machte die Emanzipation der J. in Belgien und Holland nach der Vereinigung mit Frankreich, wo ihre vollständige Gleichstellung aber erst durch das Grundgesetz von 1814 ausgesprochen wurde. In demselben Jahr wurden sie in Dänemark emanzipiert.

Die russische Regierung gewährte den J. (1805-1809) viele gewerbliche Freiheiten, erlaubte ihnen den Besuch höherer Lehranstalten, förderte die Errichtung jüdischer Schulen u. gestattete einem Juden aus Sklow, Nahum Funkelstein (1808), die Anlegung jüdischer Kolonien bei Nikolajew, wo J., wie in Kaukasien und Grusien, vom Ackerbau leben (vgl. Elk, Die jüdischen Kolonien in Rußland, Frankf. a. M. 1886). Die harten Maßregeln gegen polnische Unterthanen jüdischen Glaubens sind wohl mehr aus politischen als aus glaubensfeindlichen Gründen zu erklären; letztern verdankten freilich die Petersburger J. ihre harte Behandlung, die in Kiew ihre Vertreibung (1843). Alexander II. war bemüht, die Lage seiner jüdischen Unterthanen zu verbessern; mit seinem Tod (13. März 1881) wurden die russischen J. rechtlos. Kaum hatte Alexander III. den Thron bestiegen und Ignatiew zum Minister ernannt, so wurde ein Teil des Zarenreichs von der antijüdischen Bewegung ergriffen. Um die Osterzeit 1881 wurden die J. im Süden und Westen Rußlands (Warschau, Kiew, Odessa, Jelissawetgrad, Jekaterinoslaw u. a. O.) mißhandelt, getötet, beraubt; ihre Wohnstätten wurden verbrannt oder sonstwie zerstört. Die verfolgten Opfer fanden keinen Schutz der Regierung und wanderten in benachbarte Länder, durch Hilfe ihrer Glaubensgenossen nach Palästina und Amerika; viele Vertriebene wurden später repatriiert. Das 23. Mai 1881 vom Zaren einer Deputation Petersburger J. (unter Führung des Barons Günzburg) gegebene Versprechen, der elenden Lage der russischen J. ein Ende zu machen, ist noch nicht erfüllt worden. In Österreich sind die Grundsätze des Toleranzedikts Kaiser Josephs II. von 1782, welche die Hebung des gedrückten Volkes bezweckten, es für Landwirtschaft und Gewerbe, besonders aber für deutsches Leben und deutsche Sitten gewinnen sollten, in der Folge nur langsam zur Geltung gekommen. Heute sind die J. des österreichischen Kaiserreichs gleichberechtigt mit den übrigen Staatsbürgern. Deutschland wurde durch die französische Revolution zur Judenemanzipation gedrängt. Nachdem diese bereits 1808 in den von Frankreich behaupteten deutschen Gebietsteilen erfolgt war, ward sie auch in Hessen (1808), Frankfurt (1811), in Baden (1808 und 1811) und Preußen durch das Edikt vom 11. März 1812 durchgeführt. Trotz des Art. 16 der deutschen Bundesakte, welcher bestimmte, daß die Lage der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland übereinstimmend zu regeln sei, fand eine solche Regelung in den einzelnen Ländern nur langsam