Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchenpolitik

768

Kirchenpolitik (der "Kulturkampf" in Deutschland).

preußische Regierung den Weg einseitiger Staatsgesetzgebung ins Auge, hielt sich während der Dauer des Konzils die Hände frei und ging, als nach beendetem französischen Krieg die Kirchengenossenschaft mit ihren Angriffstruppen in dem Abgeordnetenhaus und dem Reichstag mittels der politischen Partei des Zentrums Stellung faßte (Mitte 1871), entschlossen vor. So kam es zu einem förmlichen Konflikt zwischen der staatlichen Autorität und der römischen Kurie, für welchen die Bezeichnung Kulturkampf üblich geworden ist. Der sogen. Kanzelparagraph, d. h. ein Nachtrag zum deutschen Strafgesetzbuch (Reichsgesetz vom 10. Dez. 1871), eröffnete die Reihe der kirchenpolitischen Gesetze gegen die hierarchischen Bestrebungen der Kurie. Der Geistliche, welcher in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Berufs öffentlich Angelegenheiten des Staats in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstand einer Verkündigung oder Erörterung macht, wird hier mit schwerer Strafe bedroht. 1872 folgte das Reichsgesetz, betreffend die Ausweisung der Jesuiten, und in Preußen wurde in demselben Jahr das Schulaufsichtsgesetz erlassen, welches der Regierung die Möglichkeit gab, berufsmäßige Kreisschulinspektoren an die Stelle von geistlichen Aufsichtsbeamten zu setzen. Sodann wurden 1873 die preußischen Maigesetze erlassen, welche recht eigentlich als Kampfgesetze anzusehen sind. Namentlich gilt dies von dem Gesetz vom 11. Mai 1873 über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen. In diesem Gesetz wurde von jedem Geistlichen eine gewisse Universitätsbildung verlangt sowie die Anzeige von der Ernennung eines Geistlichen an den Oberpräsidenten (Anzeigepflicht). Letzterer sollte gegen die Anstellung namentlich dann Einspruch erheben können, wenn gegen den Anzustellenden Thatsachen vorliegen würden, welche die Annahme rechtfertigten, daß derselbe den Staatsgesetzen oder den innerhalb ihrer gesetzlichen Zuständigkeit erlassenen Anordnungen der Obrigkeit entgegenwirken oder den öffentlichen Frieden stören werde (Einspruchsrecht). Ein weiteres Gesetz vom 12. Mai 1873 betraf die kirchliche Disziplinargewalt und setzte einen königlichen Gerichtshof für die kirchlichen Angelegenheiten (in Berlin) ein, durch welchen ungehorsame Bischöfe, welche sich jenen Bestimmungen nicht fügten, abgesetzt wurden. Zudem gestattete ein Reichsgesetz vom 4. Mai 1874, betreffend die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern, den renitenten Geistlichen gegenüber gewisse Aufenthaltsbeschränkungen, ja sogar die Landesverweisung (sogen. Expatriierungsgesetz). Das preußische Gesetz vom 31. Mai 1875 verbot ferner alle Orden oder ordensähnlichen Kongregationen, abgesehen von solchen, welche sich der Krankenpflege widmen. Endlich ist auch noch des preußischen Gesetzes vom 22. April 1875 (sogen. Brotkorbgesetz oder Sperrgesetz) zu gedenken, welches die Innebehaltung von Staatsbezügen renitenten Geistlichen gegenüber verfügte und für die im Interesse solcher Geistlichen zu erhebenden Kirchensteuern die obrigkeitliche Beitreibung versagte. Selbst das Reichsgesetz, welches die Zivilehe einführte und die Beurkundung des Personenstandes in die Hände der weltlichen Behörde legt, war durch den Kulturkampf veranlaßt. Inzwischen nahm dieser Kampf immer größere Dimensionen an. Die Verhältnisse der katholischen Kirche gerieten in Preußen in förmliche Destruktion. In der geschicktesten Weise hielt der Führer der Klerikalen, Windthorst, die ultramontanen Parteigenossen im Reichstag wie im preußischen Abgeordnetenhaus zusammen, und ein Einlenken in friedlichere Bahnen schien auch dem Fürsten Bismarck geboten. Mit dem Regierungsantritt des Papstes Leo XIII. trat der Wendepunkt ein. Schon im Sommer fanden zwischen dem Fürsten Bismarck und dem päpstlichen Nunzius Masella Verhandlungen statt, welche 1879 mit dem Kardinal Jacobini fortgesetzt wurden. Die Zentrumsfraktion unterstützte die Steuer- und Wirtschaftspolitik des Reichskanzlers, und der bisherige preußische Kultusminister Falk, welcher bei der kirchenpolitischen Gesetzgebung und ihrer Durchführung wesentlich beteiligt gewesen war, erhielt seine Entlassung. Diese Gesetze selbst sind seitdem wesentlich abgeschwächt worden. Namentlich gab ein preußisches Gesetz vom 14. Juli 1880 dem Staatsministerium die Möglichkeit einer Milderung mancher strengen Gesetzesvorschrift, so insbesondere die Wiederaufnahme eingestellter Staatsleistungen zu kirchlichen Zwecken. Durch Beschluß des Staatsministeriums sollte in einem katholischen Bistum, dessen Stuhl erledigt oder gegen dessen Bischof durch priesterliches Urteil auf Unfähigkeit zur Bekleidung des Amtes erkannt ist, die Ausübung bischöflicher Rechte und Verrichtungen demjenigen gestattet werden können, welcher den ihm erteilten kirchlichen Auftrag nachweisen würde. In erledigten Pfarreien oder in solchen Pfarreien, deren Inhaber durch das Einschreiten der Staatsgewalt an der Ausübung seines Amtes verhindert ist, sollten geistliche Amtshandlungen durch Stellvertreter straffrei verrichtet werden dürfen. Endlich wurden den Krankenpflegegenossenschaften gewisse Konzessionen gemacht. Ein weiteres Gesetz vom 31. Mai 1882 gestattete von der wissenschaftlichen Staatsprüfung gewisse Dispense. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, daß ein vom König begnadigter Bischof, welcher durch gerichtliches Urteil aus seinem Amt entsetzt war, damit auch als staatlich anerkannter Bischof seiner Diözese gelte. Noch weiter ging ein Gesetz vom 11. Juli 1883, und unbeirrt durch die Bemerkungen über den "Gang nach Canossa" ließ die preußische Regierung ein weiteres Friedensgesetz vom 21. Mai 1886 folgen, welches mit Unterstützung des Bischofs Kopp von Fulda im Herrenhaus zu stande kam, nachdem die Kurie die Anzeigepflicht bei der Besetzung der geistlichen Stellen zugestanden hatte. Die Wiedereröffnung der Priesterseminare und der theologischen Lehranstalten ist dadurch statuiert worden, desgleichen die Zulässigkeit der Errichtung von Konvikten für Zöglinge, welche Gymnasien, Universitäten und theologische Lehranstalten besuchen, die Freigabe des Lesens stiller Messen und des Spendens der Sterbesakramente, so daß diese Handlungen auch von Geistlichen, die im Widerspruch mit den Gesetzen angestellt worden sind, straflos vorgenommen werden können; die Abschaffung des kirchlichen Gerichtshofs und der Berufung an den Staat gegen Entscheidungen der kirchlichen Behörden, welche Disziplinarstrafen gegen einen Kirchendiener verhängen. Dazu kam ferner die Aufhebung der durch das Gesetz vom 11. Mai 1873 vorgeschriebenen Staatsprüfung, ferner die Bestimmung, durch welche die Versagung kirchlicher Gnadenmittel außer Strafe gestellt wird, die Überweisung des Vorsitzes im Kirchenvorstand an den Pfarrer, resp. dessen Stellvertreter und endlich die Gewährung weiterer Vergünstigungen an die Krankenpflegerorden. Die guten Beziehungen zwischen der preußischen Staatsregierung und dem römischen Stuhl wurden namentlich durch die Übertragung des Schiedsrichteramtes in der Karolinenfrage