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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kommunismus

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Kommunismus (Bedeutung und Wesen; ältere und moderne Kommunisten).

schaft. Beide sind Systeme einer nach der Meinung der Kommunisten und Sozialisten bessern Staats- und Gesellschaftsordnung, als die bestehende ist, und sind ursprünglich aus einem humanen Bestreben hervorgegangen: die Not und das Elend im Volksleben zu beseitigen. Sie wollen die Armut, das Proletariat, die Unmoralität verbannen und die Unterschiede in den wirtschaftlichen, moralischen und sozialen Verhältnissen der Menschen ausgleichen oder aufheben, sie wollen allen eine glückliche materielle und moralische Existenz sichern und deshalb das Staats- und Wirtschaftsleben auf neuen Grundlagen errichten. Beide beruhen auf dem Glauben an die unbedingte Lösung der sozialen Frage, indem sie die Ursachen aller beklagten Übelstände lediglich in unrichtigen wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und politischen Einrichtungen erblicken. Beide wollen deshalb eine vollständige Um- und Neugestaltung der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Für diese neue Ordnung stellen sie als Grundprinzip hin, daß die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen eingeschränkt werden und die Gesamtheit die Sorge und Verantwortlichkeit für die Lage der Einzelnen übernehmen müsse. Auf dieser Grundlage erfinden sie für das ökonomische Gebiet neue Organisationen der wirtschaftlichen Thätigkeit, der Produktion und der Verteilung der Güter, welche die Forderungen einer angeblichen Gerechtigkeit verwirklichen sollen. Im übrigen gehen beide Richtungen in den Zielpunkten wie in den praktischen Vorschlägen für die Neugestaltung der bestehenden Zustände weit auseinander. Auch unter den einzelnen Kommunisten bestehen in dieser Beziehung erhebliche Unterschiede. Man spricht deshalb von verschiedenen kommunistischen Systemen. Aber gewisse Grundanschauungen finden sich doch bei allen, und diese sind es, welche das Wesen des K. an sich charakterisieren und ihn von dem Sozialismus unterscheiden. Es sind hauptsächlich folgende: Der K. sieht die Wurzel aller Übelstände in der Institution des privaten Eigentums. Diese mache erst die Menschen zu Egoisten und lasse den an sich berechtigten und nützlichen Trieb zur Selbsterhaltung und Förderung der eignen Interessen ausarten in die unberechtigte und schädliche Selbstsucht. Die Folge sei bei der bisherigen Rechtsordnung unter der Herrschaft der persönlichen Freiheit die Ausbeutung des einen durch den andern, die wirtschaftliche und damit auch die soziale und politische Ungleichheit. An diese Wurzel müsse vor allem die Axt gelegt werden. Charakteristisch für den K. ist ferner, daß er Menschenglück und gerechte, normale Zustände in der Gesellschaft nur da sieht, wo unbedingte Gleichheit der Einzelnen besteht. Es soll daher kein ökonomischer, sozialer, politischer Unterschied irgend welcher Art bestehen und Gleichheit der Arbeitslast, des Einkommens und des Genusses herbeigeführt werden. Zu diesem Zweck wird eine Organisation der wirtschaftlichen Thätigkeit der Einzelnen von Gesellschafts wegen gefordert. Dieselbe soll auf der Gütergemeinschaft beruhen; alle Produktionsmittel, alle Genußmittel sind Eigentum der Gesamtheit. Es besteht kein Privateigentum, also auch kein Erbrecht. Die Gesamtheit regelt die Herstellung, Verteilung, Konsumtion der materiellen Güter nach dem Grundsatz der Gleichheit. Für alle Arbeitsfähigen besteht Arbeitszwang. Die Ernährung und Ausbildung der Jugend ist eine gleiche und erfolgt auf gemeinsame Kosten. In diesem Ideenkreis bewegen sich alle Kommunisten. Im einzelnen und in der Art, wie sie ihre Ideen zu verwirklichen dachten, weichen sie voneinander ab.

Kommunistische Ideen und Lehren existieren nicht erst seit der großen französischen Revolution. Schon im Altertum hat Platon in seiner "Republik" eine Art von kommunistischem Staat als sein Staatsideal hingestellt. In diesem Idealstaat, der die ideale Verwirklichung der griechischen Staatsidee sein soll, besteht nicht die volle, sondern nur eine teilweise Gütergemeinschaft, noch weniger die volle Gleichheit der Menschen. Seit dem 16. Jahrh. hat fast jedes Jahrhundert hervorragende Vertreter des kommunistischen Gedankens aufzuweisen. Die erste umfangreichste und bedeutendste Entwickelung und Verteidigung des K. und das erste Bild eines wirklich kommunistischen Staats lieferte Thomas Morus in einem Jugendwerk: "De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia libri duo" (1516, deutsch von H. Kothe in Reclams "Universalbibliothek"), dessen Ideen freilich der spätere Staatsmann und Kanzler Heinrichs VIII. von England nicht mehr vertrat. Das Werk erregte wegen der scharfen und freimütigen Kritik des damaligen, auf der privilegierten Ausbeutung beruhenden Klassen- und Ständestaats großes Aufsehen. Aus ihm schöpften später vielfach Kommunisten ihre Ideen und ihre Gründe. Unter diesen sind als Erfinder neuer kommunistischer Staatsordnungen bis zur französischen Revolution besonders hervorzuheben der kalabresische Dominikanermönch und Philosoph Thomas Campanella, 1568-1659, der das phantastische Bild eines kommunistischen Staats in seinem Werk über den Sonnenstaat ("Civitas Solis", 1620) entwarf, ferner der französische Rechtsgelehrte Vairasse, aus dessen kommunistischem Werk "Histoire des Sevarambes" (1677) später namentlich der Sozialist Charles Fourier und der Kommunist Cabet einzelne Ideen entnahmen, endlich der Franzose Morelly ("Naufrages des îles flottantes, ou la Basiliade de Bilpai", Messina 1753; "Code de la nature", 1755). "Staatsromane" nennt Robert v. Mohl mit Recht diese Werke in seiner historisch-kritischen Darstellung derselben ("Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaft", Bd. 1, S. 167 ff.).

Diese Kommunisten waren reine Theoretiker des K. Sie waren nicht bestrebt, ihre kommunistischen Ideen zu verwirklichen. Darin unterscheiden sie sich von den modernen Kommunisten. Diese letztern haben keine neuen kommunistischen Grundgedanken erfunden, sondern bewegen sich bezüglich derselben in den Ideen, die schon Morus, Campanella, Vairasse, Morelly u. a. ausgesprochen hatten. Wenn trotzdem von verschiedenen Systemen derselben gesprochen wird, so hat das nur insofern einen Grund, als sie jenen Kommunisten gegenüber und unter sich in der Art der Durchführung des kommunistischen Gedankens, in der Organisation des von ihnen erstrebten kommunistischen Heilstaats differieren. Die einen (Cabet, Weitling) wollen den K. in einem großen zentralisierten Staat verwirklichen, in welchem die Zentralbehörde die Thätigkeit aller Einzelnen wie die Marionetten auf einem Puppentheater dirigiert; die andern (Babeuf, R. Owen) wollen die Auflösung des Staats in kommunistisch organisierte, selbständige ländliche Gemeinden ohne Städte. Die einen (Cabet, Weitling) träumen von einem hohen Genuß- und Kulturleben aller, wie es heute nur die Wohlhabenden und Reichen genießen können; die andern (Babeuf, R. Owen) erkannten, daß die kommunistische Gesellschaft den Einzelnen nur eine sehr bescheidene materielle Existenz und ein niedriges geistiges Leben verschaffen könne. Die einen erstreben die Gleichheit