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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Preußen

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Preußen (Geschichte: Friedrich Wilhelm IV., bis 1848).

In seiner auswärtigen Politik hatte sich Friedrich Wilhelm III. durch die Heilige Allianz (26. Sept. 1815) ganz an Rußland und Österreich gebunden. P. beteiligte sich auf den Kongressen von Aachen, Troppau, Laibach und Verona an allen Maßregeln zur Unterdrückung jeder freiern Bewegung in Europa, ohne jedoch eine maßgebende Rolle zu spielen. Die Erschöpfung der Hilfsmittel des Landes gebot eine friedfertige Politik; die völlige Unselbständigkeit aber, die P. zur Schau trug (denn von dem verständigen und erfolgreichen Eingreifen Preußens in die orientalische Krisis 1828-29 und der beschwichtigenden Rolle, die es in der belgischen Frage 1831-32 spielte, erfuhr das Publikum nichts), die grenzenlose Nachgiebigkeit gegen Rußlands und Metternichs reaktionäre Tendenzen mußten alle verstimmen, welche Preußens Großmachtstellung hatten erkämpfen helfen.

Dazu kamen endlich die kirchlichen Verhältnisse. Auch hier hatte der König ursprünglich die besten Absichten. Die Einführung der Union bei der dritten Säkularfeier der Reformation 1817, durch welche die lutherische und die reformierte Kirche in P. als "evangelische Kirche" vereinigt wurden, sollte die Spaltung beider Konfessionen und damit auch die Kluft zwischen dem reformierten Herrscherhaus und den meist lutherischen Unterthanen beseitigen und den konfessionen Frieden befördern. Die Absicht schloß eigentlich jeden Zwang aus, aber bald ließ sich der König zu solchem fortreißen. 1821 wurden die Namen Protestanten und Protestantismus in öffentlichen Schriften verboten, 1824 den evangelischen Gemeinden eine vom König selbst ausgearbeitete Agende aufgedrungen und Widerstand gegen dieselbe mit Gewalt unterdrückt. Ja, es wurde die evangelische Kirche für die Verteidigung des absolutistischen Regierungssystems mißbraucht und den Geistlichen in diesem Sinn ein Eid abverlangt, politisch verdächtige Geistliche und Lehrer aber ohne weiteres abgesetzt. Weil dies von der Mehrheit der gebildeten evangelischen Bevölkerung entschieden mißbilligt wurde, fand auch das Einschreiten der Regierung gegen die Anmaßung und Widerspenstigkeit des katholischen Klerus keine Anerkennung, als sie wegen der Weigerung, gemischte Ehen, deren Kinder nicht katholisch erzogen würden, einsegnen zu lassen, 1837 den Erzbischof von Köln, Droste zu Vischering, und 1839 den Erzbischof Dunin von Posen auf die Festung bringen ließ; dies energische Einschreiten wurde als ungerechtfertigte Willkür angesehen. Seit der Julirevolution und der neuen Demagogenverfolgung wuchs der allgemeine Mißmut, und in der Litteratur nahm trotz der Zensur die Opposition gegen die bestehenden Zustände schon schärfere Formen an. Zwar wartete man noch geduldig das Ende der Regierung des alten, seiner Privattugenden wegen beliebten Königs ab; als er aber 7. Juni 1840 starb und sein Sohn Friedrich Wilhelm IV. ihm folgte, erwartete man von ihm eine baldige und völlige Änderung des Regierungssystems.

Die Regierung Friedrich Wilhelms IV. bis zum Erlaß der Verfassung.

Der neue König, nicht mehr jung (er stand bereits im 45. Lebensjahr), aber von großer Geistesfrische, fein und vielseitig gebildet, im Besitz schwungvolle Redegabe, war mit den Besten der Nation in dem Ziel, dem preußischen Volk die politische Freiheit, dem deutschen die ersehnte Einheit zu geben, einig. Boyen wurde zum Kriegsminister ernannt, Arndt in sein Amt wieder eingesetzt, Jahn befreit, ebenso freilich die Erzbischöfe von Köln und Posen, und eine allgemeine Amnestie erlassen (10. Aug. 1840). Aber des Königs Ideal war der mittelalterlich-romantische Lehnsstaat, nicht der moderne Rechtsstaat, der ihm als Erzeugnis der Revolution vielmehr ein Greuel war, und für dessen praktische Erfordernisse er kein Interesse zeigte. In der deutschen Frage träumte er von der Möglichkeit, daß Österreich sich mit dem ehrwürdigen ererbten Kaisernamen begnügen und P. die eigentliche Leitung Deutschlands überlassen werde. Das entschiedene Verlangen einer Verfassung, welches Broschüren wie die Schöns: "Woher und Wohin?" und Jacobys "Vier Fragen" aussprachen, und dem sich sogar mehrere Provinziallandtage anschlossen, erbitterte ihn und wurde schroff zurückgewiesen. In kirchlicher Beziehung bekundete er eine streng orthodoxe Richtung, entließ 1841 den verdienten Allenstein und berief den strenggläubigen Eichhorn an die Spitze des Unterrichtsministeriums. Die Mission in China, die Errichtung eines evangelischen Bistums in Jerusalem, endlich das Schicksal Neuenburgs, das durch den Sonderbundskrieg berührt wurde, nahmen den König anscheinend ganz in Anspruch, und mit Ausnahme der Pietisten und Ultramontanen waren bald alle Schichten der Bevölkerung von der neuen Regierung enttäuscht.

Endlich sah der König doch ein, daß er der öffentlichen Meinung ein Zugeständnis machen müsse, und errichtete trotz Rußlands und Österreichs Abmahnungen durch Patent vom 3. Febr. 1847 eine Art von Landesvertretung, den Vereinigten Landtag, welcher das Petitionsrecht, das Recht eines Beirats bei der Gesetzgebung und das Steuer- und Anleihebewilligungsrecht erhielt. Die Zusammensetzung der zwei Kurien (Herren- und Ständekurie) desselben war allerdings eine rein ständische, wie die der Provinziallandtage, und gab dem Adel nicht bloß in der ersten, sondern auch in der zweiten Kurie das Übergewicht. Indes die Hauptsache war, daß endlich in P. ein Forum geschaffen wurde, auf dem seine öffentlichen Angelegenheiten frei besprochen wurden, daß das Volk seine politische Bildung aus andern Quellen als verbotenen, aber um so eifriger heimlich verbreiteten Schriften zog und durch das gesteigerte gemeinschaftliche Interesse an dem Staat patriotischer Gemeinsinn auch in den dem preußischen Staatswesen bisher fern gebliebenen Kreisen geweckt wurde. Eine gesetzliche Entwickelung des Vereinigten Landtags zu einer wirklichen Volksvertretung war wohl möglich, wenn der König und die Freunde einer konstitutionellen Verfassung einander entgegenkamen. Der König forderte das Mißtrauen derselben aber geradezu heraus durch die Rede, mit welcher er 11. April 1847 den Vereinigten Landtag eröffnete, und in welcher er erklärte, er werde nicht dulden, daß das natürliche Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konstitutionelles umgewandelt werde, daß sich zwischen ihn und das Land ein beschriebenes Blatt Papier eindränge. Dem gegenüber stellte die Ständekurie auf Antrag der liberalen rheinischen und ostpreußischen Abgeordneten die Forderung, daß der Landtag künftig alle zwei Jahre zusammentrete und sein Bewilligungsrecht für Anleihen und Steuern genauer festgestellt werde. Dieselbe wurde aber im Landtagsabschied, der nach Schluß der Sitzungen (26. Juni) 24. Juli 1847 veröffentlicht wurde, nicht berücksichtigt. Die vereinigten Ausschüsse des Landtags waren 17. Jan. bis 6. März 1848 zur Beratung eines neuen Strafgesetzbuchs versammelt; von einer neuen Berufung des Landtags selbst war aber keine Rede.

Die Mißstimmung über diesen Ausgang des Landtags wurde durch die Mißernten und die materielle