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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Preußen

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Preußen (Geschichte: Wilhelm I., bis 1862).

rief ein neues, dessen Vorsitz der Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen übernahm, und dessen bedeutendste Mitglieder die Führer der Altliberalen, R. v. Auerswald, Patow, Bethmann-Hollweg und Graf Schwerin, waren. In einer Ansprache an das Ministerium vom 8. Nov. gab der Prinz-Regent die Ziele seiner Regierung zu erkennen: von einem Bruch mit der Vergangenheit solle nicht die Rede sein; die Regierung solle nur die bessernde Hand anlegen, sich gesetzlich und konsequent zeigen; vor religiöser Heuchelei sei zu warnen; in Deutschland müsse man moralische Eroberungen machen, vor allem aber müsse Preußens Heer mächtig und angesehen sein. Der Hauptschwerpunkt des Programms lag in der Stelle über das Heerwesen, die bedeutete, daß der Prinz eine Heeresreform als eine unerläßliche Vorbedingung für eine nationale Politik und eine den liberalen Wünschen entsprechende innere Verwaltung ansehe. Dies wurde aber völlig übersehen, und weil das Volk den Prinzen für einen Feind der pietistischen Reaktion und der schwächlichen Manteuffelschen Politik hielt, versprach man sich von dem neuen Ministerium sofort die Erfüllung aller liberalen und patriotischen Hoffnungen, den Beginn einer neuen Ära. Die Neuwahlen für das Abgeordnetenhaus (November 1858) fielen unter großer Beteiligung des Volkes, auch der Demokratie, ganz ministeriell aus; die Altliberalen oder Gothaer unter Führung Vinckes, Parteigenossen der meisten Minister, hatten die überwiegende Majorität. Presse und Vereine durften sich freier bewegen, und zwei alte Forderungen der Liberalen, die Durchführung der Grundsteuer und ein Zivilehegesetz, wurden vom Ministerium beim Landtag beantragt.

Als 1859 der Krieg in Italien ausbrach, trug zwar P. Bedenken, wie Österreich und die Süddeutschen verlangten, Frankreich sofort den Krieg zu erklären, machte aber sein Heer erst marschbereit, dann mobil und war entschlossen, sobald deutsches Bundesgebiet verletzt würde, einschreiten; nur beanspruchte es die Führung des Kriegs am Rhein. Aber Österreich schloß lieber den Frieden von Villafranca (11. Juli), als daß es dies zugegeben hätte, und Kaiser Franz Joseph verkündete in einem Manifest, daß er habe Frieden schließen müssen, weil P. ihn im Stiche gelassen. Indes würdigte man auch in Deutschland Preußens loyale Haltung und nationale Bedeutung, und im deutschen Nationalverein sammelten sich die Anhänger der preußischen Hegemonie. Aus dem Verlauf der Mobilmachung 1859 hatte aber der Prinz-Regent erkannt, daß die Heeresreform nicht mehr aufgeschoben werden dürfe, und 1860 wurde dem Landtag die vom Prinzen selbst und dem Kriegsminister v. Roon ausgearbeitete Heeresreorganisation vorgelegt, deren Grundgedanken waren: Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht, Wiederherstellung der dreijährigen Dienstzeit, Erhöhung der Reservepflicht von zwei auf vier Jahre und entsprechende Verkürzung der Landwehrpflicht; erhebliche Vermehrung der Kadres, um eine größere Anzahl Rekruten ausbilden und die Feldarmee nur aus Linienregimentern zusammensetzen zu können, daher auch Vermehrung der Offiziere und Unteroffiziere und der unter den Fahnen stehenden Truppen. Die Mehrkosten sollten 9 Mill. Thlr. betragen, die Ausgaben für das Heer also auf 32,800,000 Thlr. steigen, etwa ein Viertel der gesamten Jahreseinnahme (130 Mill. Thlr.).

Der Reformplan stieß auf vielfache Opposition: man fand die Kosten zu beträchtlich, hielt das Lieblingsinstitut der Landwehr für zu sehr zurückgesetzt, war mit der Verlängerung der Dienstzeit nicht einverstanden etc. Die lange Friedenszeit hatte das Bewußtsein von der Notwendigkeit eines starken Heers in P. geschwächt, und noch traute man in Erinnerung an die schwächliche Politik 1849-50 der Regierung nicht zu, daß sie von der kostspieligen Waffe auch einen wirklich energischen, erfolgreichen Gebrauch für Preußens Machtstellung und Deutschlands Einigung machen werde. In unseligem Mißtrauen, einem Zeichen politischer Unreife und einer Folge der frühern Unfreiheit, vermutete man, daß ein geheimer Plan der Reaktion hinter der Heeresreform verborgen sei. Daher beging die Vinckesche Partei im Abgeordnetenhaus, die weder den Mut hatte, die Vorlage abzulehnen, noch sie anzunehmen, den verhängnisvollen Fehler, die Reorganisation als Provisorium zu genehmigen und die Kosten bis 30. Juni 1861 vorläufig zu bewilligen, und das Ministerium acceptierte dies, obwohl es entschlossen war, die Reorganisation durch Errichtung neuer Regimenter etc. zu einer definitiven zu machen, wie die Fahnenweihe bewies. Hieraus entstand der verderbliche Verfassungskonflikt. Derselbe verschärfte sich immer mehr, als das Mißtrauen gegen die Absichten der Regierung, von den Demokraten geschürt, durch verschiedene Vorfälle, wie die wiederholte Ablehnung der Grundsteuer und der Zivilehe durch das Herrenhaus, ohne daß dies reformiert wurde, die legitimistische auswärtige Politik des Ministers Schleinitz u. a., verstärkt wurde. Namentlich die feierliche Krönung, die Wilhelm I. nach seiner Thronbesteigung (2. Jan. 1861) 18. Okt. 1861 in Königsberg veranstaltete, und bei der er die Heiligkeit und Unantastbarkeit der Krone und die beratende Stimme des Landtags betonte, verstimmte die Anhänger der parlamentarischen Verfassungsform welche als Fraktion "Jung-Litauen" schon bisher im Landtag bestanden hatten, sich nun als "Deutsche Fortschrittspartei" konstruierten und bei den Neuwahlen für das Abgeordnetenhaus (6. Dez. 1861) die Majorität erhielten. Es war vergeblich, daß die Regierung dem neuen Landtag ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz und eine Kreisordnung neben dem Heeresgesetz vorlegte. In die Kommission zur Prüfung des letztern wurden fast nur Gegner gewählt, und die Unhaltbarkeit seiner Lage erkennend, benutzte das Ministerium der neuen Ära die Annahme des Hagenschen Antrags, daß die Regierung das Budget der Ausgaben in größerer Spezialisierung vorlegen u. dies sofort auf das Budget von 1862 Anwendung finden solle (6. März), um seine Entlassung einzureichen.

Der Verfassungskonflikt.

Der König löste 18. März das Abgeordnetenhaus auf und berief ein neues Ministerium unter dem Vorsitz des Prinzen Adolf von Hohenlohe-Ingelfingen, das vorwiegend aus Beamten (v. d. Heydt, Mühler, Lippe) bestand. Er that selbst alles mögliche, um das Volk für sein "eigenstes Werk" zu gewinnen, und verzichtete auf den 1859 bewilligten 25proz. Zuschlag zu der Einkommen-, Klassen-, Schlacht- und Mahlsteuer vom 1. Juli 1862 ab, verringerte die Mehrkosten für das Heer nach Möglichkeit, setzte durch Androhung mit bewaffneter Intervention die Wiederherstellung der Verfassung von 1831 in Kurhessen durch, schloß mit Koburg-Gotha, Altenburg und Waldeck Militärkonventionen, erkannte (21. Juli 1862) das Königreich Italien an und schloß 2. Aug. mit Frankreich einen freihändlerischen Handelsvertrag. Dennoch erlitt die Regierung bei den Landtagswahlen (6. Mai) eine vollständige Niederlage, und die Mehrheit des neuen Abgeordnetenhauses schied die Reorganisationskosten aus dem Ordinarium des Budgets