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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russische Litteratur

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Russische Litteratur (Nationallitteratur im 19. Jahrhundert).

chen, die andern, indem sie sich streng an das Nationale halten, das jeder nach seiner Art zu formulieren sucht. Auf diesem Weg entstanden die zwei Hauptparteien der neuen russischen Litteratur: die der Slawophilen und die der Westlinge (Sápadniki), welche beide, einander bekämpfend, dennoch meistens in Opposition zur Regierung stehen, die abgeklärtesten Männer zu den Ihrigen zählen und die große Masse der lesenden Kreise in zwei Lager teilen. Schon in Puschkins oben erwähnter poetischer Erzählung "Rußlan und Ludmilla" tritt deutlich das Streben hervor, die ausländische Romantik mit dem einheimischen Volkstümlichen zu verbinden. Dann tritt in seinen nächsten größern Dichtungen ("Der Gefangene im Kaukasus", 1821; "Der Springbrunnen von Bachtschissaraï", 1822; "Die Zigeuner", 1824) an die Stelle des Romantischen der Byronismus, bis endlich sein nationaler Roman in Versen: "Eugen Onegin" (1823-31) folgt, in welchem zuerst wohl noch der Einfluß Byrons zu bemerken ist, bald aber unter den volkstümlichen Szenen und Naturschilderungen verschwindet, sowie darin auch zum erstenmal der Charakter eines spezifisch russischen Mädchens (Tatjana) gezeichnet wird. Im Helden lernen wir zum erstenmal einen Mann kennen, in welchem sich alle Mängel und Vorzüge der auf dem Boden der damaligen russischen Gesellschaft zur Entwickelung gekommenen Eigenheiten klar abspiegeln, und alles, was bis auf den heutigen Tag (bis auf Turgenjew und Gontscharow) von Typen in der Romanlitteratur Bedeutung hat, hat "Eugen Onegin" zum Ahnherrn. Bevor noch das Werk im Druck erschien, hatte sich handschriftlich die von der Zensur unterdrückte Komödie "Góre ot umá" ("Wehe dem Gescheiten") von Gribojedow (1829 ermordet) verbreitet, in welcher der aus Westeuropa zurückkehrende Tschatskij vergebens versucht, das ethische Niveau der Gesellschaft zu heben, und, weil er dem Bürokratismus und Militarismus nicht huldigt, für politisch gefährlich und schließlich für wahnsinnig erklärt wird. In das Jahr 1825 fallen die Konzeptionen der bessern Werke Puschkins oder ihre Vollendung. Hierher gehört außer einer Masse von lyrischen Gedichten auch "Boris Godunow", ein national-historisches Drama. Bald nach der Thronbesteigung des Kaisers Nikolaus ward er von diesem an den Hof gezogen, erhielt hier unter anderm den Auftrag, die "Geschichte des Pugatschewschen Aufruhrs" zu schreiben, und fiel dann 1837 in einem Duell, welches als Resultat einer nichtigen Intrige anzusehen ist.

Um Puschkin bildete sich ein ganzer Kreis von Dichtern, aus welchem Baratynskij (1800-1843), Jasykow (1803-46) und Delwig (1798-1831) hervorragen; auch gehören hierher: der früh verstorbene Dmitrij Wenewitinow (gest. 1827) und der unglückliche Poleshajew (gest. 1838). Es ist die Lyrik der Verzweiflung, die letzterer angestimmt; denn es war eine schwere Zeit. Nicht nur, daß die willkürlichste Zensur wie ein schrecklicher Alp auf den Geistesprodukten lastete, auch Wissenschaft und Bildung wurden unter die Polizei gestellt; die Zahl der Studierenden ward begrenzt (mehr als 300 durften auf keiner Universität studieren), die Philosophie ganz aus dem Kreis der Lehrgegenstände verbannt, in den Geschichtsbüchern die Zeit der französischen Revolution gestrichen, jede Beziehung mit dem Ausland möglichst erschwert und fast alles Gedruckte an zwei Journalisten, Bulgarin und Gretsch, die in Petersburg die "Sséwernaja Ptschéla" ("Nordische Biene") herausgaben, gleichsam verpachtet. Aber aller Hindernisse ungeachtet brach sich die Kulturbewegung Bahn. Nicht wenig Verdienst ist dem Publizisten Polewoi (1796-1846) zuzuschreiben, wenn er auch schließlich doch von der Autokratie gebeugt und gebrochen wurde. Das geistige Leben zog sich in den 40er Jahren in die moskauischen Kreise zurück, wo es sich fern von dem Petersburger Zentralismus und Büreaukratismus freier bewegen konnte, und wo wohl noch manche Tradition der Nowikowschen Zeit fortlebte. Junge Leute, von denen viele auf deutschen Universitäten studiert hatten, brachten die Liebe zur Beschäftigung mit der Philosophie (Schelling, Fichte und besonders Hegel) mit nach Hause. Schon das Besitztum eines selten zu erlangenden europäischen Buches oder eines gelehrten Referats darüber verlieh damals Bedeutung und Einfluß.

In diesen Kreisen kam die eigentliche Teilung in Slawophilen und Westlinge (s. oben) zur Geltung. Die einen wie die andern befleißigten sich, eine soziale Reformation der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse hervorzurufen: die einen auf nationalem Boden, auf Grund philosophischer, kirchlicher und geschichtlicher traumhafter Prinzipien, die andern, indem sie mehr die sozialpolitischen Fragen betonten, deren Klärung sie in den westeuropäischen Schriften suchten. Zu den erstern gehören der Dichter Chomjakow (1804-60), der eigentliche Vater des Slawophilentums, rein in seinen Bestrebungen, aber, von Humanität und Patriotismus hingerissen, optimistisch einseitig (von seinen Schöpfungen ist außer den lyrischen Gedichten auch das Drama "Der falsche Demetrius" zu bemerken), Sergei Aksakow (1791-1859; "Familienchronik", eine patriarchalische Schilderung des russischen Lebens) nebst seinen Söhnen Konstantin (gest. 1861) und Iwan (gest. 1886) sowie Kirejewskij, der emsige Sammler russischer Volkslieder. Zu der Partei der Westlinge gehörten: Alex. Herzen (pseudonym Iskander, 1812-70), Ogarew (gest. 1877) und vor allen der auf die Entwickelung der russischen Gesellschaft und Litteratur überaus einflußreiche Kritiker Belinskij (gest. 1848). Letzterer verstand es, jedes neu erscheinende Werk nicht bloß von dem Standpunkt der ästhetischen Kritik aus zu beurteilen, sondern er wußte auch den Zusammenhang desselben mit den Lebenserscheinungen zu zeigen, so daß er mit seinem Worte trotz der Zensur tief eingriff und als Erzieher der Gesellschaft im höhern Sinn des Wortes erscheint. Auch auf manches schriftstellerische Talent machte er aufmerksam. So wies er zuerst auf Alexei Kolzow (1809-42) hin den Dichter inniger Lieder, die zum Teil vom Volk gesungen werden, ohne daß es den Verfasser kennt.

Neben Puschkin steht der feurige, groß angelegte, leider früh als Opfer eines Duells gefallene Michael Lermontow (1814-41). Nach Puschkins Tod stellte er sich sofort auf die Seite derjenigen, die, eine böse Intrige erkennend, Strafe der Schuldigen verlangten (vgl. sein Gedicht "Auf den Tod des Dichters"). Der Zar verbannte ihn nach dem Kaukasus, und der Druck seiner Gedichte ward verboten, so daß nur mit großer Mühe und ohne den Namen des Verfassers das Lied vom grausamen Zaren "Iwan Wasiljewitsch" veröffentlicht werden konnte. Lermontows ganzes Dichten und Trachten war Opposition gegen das herrschende System der Regierung, gegen den herrschenden Ton und die Ideale der Gesellschaft; er ist daher auch ein rein subjektiver Dichter. So auch in seinem in unübertroffener Prosa geschriebenen Roman "Der Held unsrer Zeit". Die ungewöhnliche Kraft des Helden Petschorin, der in