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Kriminalität (soziale Ursachen).
zuführen sein; anderseits darf man nicht übersehen, daß zu Kriegszeiten die kriminellsten Volksklassen, nämlich jene zwischen dem 20. und 30. Jahre, unter den Fahnen stehen und vielleicht außer Landes sind, und daß naturgemäß eine Herabminderung der Thätigkeit der Gerichte eintritt. Nach dem Friedensschluß geht die Verbrechensziffer wieder entschieden in die Höhe, und es zeigt sich in derselben die Verrohung, welche in gewissem Maße als Folge eines jeden Krieges eintritt, vornehmlich durch die Vermehrung der Gewaltsamkeitsdelikte (s. Textfigur, S. 523).
2) Politische Revolutionen. Wie diese auf die Verbrechensziffer einwirken, hängt von den Ursachen und der Beschaffenheit der Revolten ab. Als ein höchst charakteristisches sozial-ethisches Moment sei hier erwähnt, daß Generationen, welche in Revolutionszeiten geboren worden sind, durch ihr ganzes Leben hindurch eine ganz prägnante K. beibehalten.
3) Ökonomische Krisen. Die ökonomischen Krisen finden in die städtische Bevölkerung ungemein leicht Eingang, äußern hier sehr bald und sehr rasch ihre Wirkungen durch die Erhöhung der Gewinnsuchts- und Gewaltsamkeitsdelikte, der Delikte gegen Staat, öffentliche Ordnung u. dgl.; sie verlieren aber ebenso rasch wieder, oft durch nebensächliche Umstände, ihre Wirkung. Dagegen dauert es meist geraume Zeit, ehe die Krisen ihre Einwirkung auf das offene Land ausüben, dafür aber sind dort ihre Spuren um so nachhaltiger und um so schwerer zu vertilgen. Alle diese genannten Ursachen mit variabler akuter Wirkung rufen in der Verbrechenskurve plötzliche markante Unterbrechungen, entweder Einschnitte oder Erhöhungen hervor, nach welchen deren Lauf wieder eine ruhigere Gestalt annimmt.
c) Soziale Ursachen mit variabler chronischer Wirkung.
Alle jene sozialen Thatsachen, welche wir unter dem Namen der Kultur zusammenfassen, üben auf die Entwickelung der K. eines Volkes einen allmählich umgestaltenden Einfluß aus. Die Einwirkung derselben ist gerade entgegengesetzt der Einwirkung der individuellen Ursachen, welche vielmehr die Grundlage der Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit in den alljährlichen Kriminalitätsziffern sind. Mit Hilfe der Kriminalstatistik ist man nun im stande, für einige Staaten und einen großen Zeitraum des 19. Jahrh. die Bewegung der Kriminalitätsziffer zu beobachten. Die wichtigsten Erscheinungen sind hier folgende:
1) Die strafbaren Handlungen im ganzen, also die schweren und leichten zusammengenommen, sind im Verlauf der letzten 30-50 Jahre im Steigen begriffen; dabei aber vermehren sich nur die leichten, während die schweren eher abnehmen. Nun ist es allerdings richtig, daß der Kreis der strafgesetzlich zu ahndenden Delikte in diesem Jahrhundert eher in Zunahme als in Abnahme begriffen ist und viele Strafsachen aus der administrativen Gerichtsbarkeit in die strafgerichtliche übergingen; ferner, daß die Repression und die Ausbildung der Polizei immer mehr und mehr zunimmt. Diese Umstände dürften jedoch nur zu einer Abschwächung der Ziffern, keineswegs aber zu einer prinzipiellen Änderung des Resultats führen. Es ist ja überdies immerhin schon ein sozial-ethisch ungünstiges Symptom, wenn der Staat genötigt ist, früher erlaubte Handlungen als strafbar zu erklären oder administrative Strafsachen in richterliche umzuwandeln, resp. auf eine schärfere Handhabung der Repressivgewalt hinzuarbeiten.
Im Deutschen Reiche z. B. entfielen strafbare Handlungen auf 100,000 strafmündige Einwohner:
1882: 1215
1883: 1241
1884: 1316
1885: 1346
1886: 1362
1887: 1362
In Österreich kamen Verurteilte wegen Verbrechen auf 10,000 Einw.:
1882: 14,5
1883: 13,6
1884: 13,5
1885: 13,6
1886: 13,0
dagegen wegen Übertretungen in derselben Zeit 210, 219, 223, 237, 244. Über den Gang der Verbrechenskurve in Frankreich seit 1830 und in Preußen seit 1854 vgl. die zwei folgenden Tabellen:
Frankreich. (Alle Ziffern in 1000)
Jahr Von den Schwurgerichten abgeurteilte Verbrechen Von den Korrektions-Tribunalen abgeurteilte délits (Vergehen)
gegen d. Eigentum gegen die Person
1826 4,2 1,6 41,0
1830 4,4 1,3 40,0
1835 3,8 1,9 50,1
1840 4,9 1,7 67,9
1845 3,8 1,7 76,7
1850 3,5 2,3 109,6
1855 3,5 1,7 127,6
1860 2,3 1,7 114,9
1865 2,0 1,8 116,0
1870 1,7 1,3 85,2
1875 2,3 1,8 145,3
1878 1,9 1,7 142,9
In Preußen kam in dem Zeitraum 1854-78 im Durchschnitt eine Untersuchung wegen
Jahr Verbr. u. Vergehen Übertretung auf Einwohner: Holzdiebstahl
1854 170 103 52
1860 191 125 43
1865 182 122 45
1870 177 118 50
1875 176 79 59
1878 142 63 60
Den verschiedenen Gang der Kurve für die schweren und jener für die leichten Delikte soll die Darstellung (nach Starke) S. 523 versinnlichen.
2) Die Delikte aus Gewinnsucht nehmen relativ ab, jene gegen die Person zu, man zählte in Frankreich:
1826-30 1874-78
Verbrechen gegen die Person 100 117
Verbrechen gegen das Eigentum 100 49
In Deutschland wurden gezählt reichsstrafgesetzlich verfolgbare Handlungen, wegen deren Verurteilungen erfolgten im Verhältnis zu 100,000 strafmündigen Einwohnern:
Jahr gegen die Person gegen das Vermögen
1882 336 696
1883 349 708
1884 397 718
1885 416 724
1886 437 712
1887 447 702
Über Frankreich und Preußen, resp. längere Zeiträume vgl. die graphische Darstellung S. 523 und die vorhergehenden Tabellen. Wenn aber die Gewinnsuchtsdelikte nicht entschieden in Zunahme begriffen sind, so ist das ein Zeichen, daß die ökonomische Depression unsrer Zeit in ihrer Einwirkung auf die K. nicht überschätzt werden darf.
3) Die Delikte werden gegen früher in erhöhtem Maße von einzelnen verübt, und die Zahl der sich zum Verbrechen Vereinigenden nimmt gegen früher stetig ab, letztere beträgt jetzt für Deutschland 3-4. Es entfallen z. B. auf je 100 Strafsachen in Frankreich Angeklagte:
1826-30 1874-78
bei Geschwornengerichten 130 126
bei Korrektionstribunalen 140 118