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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russische Litteratur

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Russische Litteratur (1885-90).

gogik 294, Kunst 137, verschiedene 1070. Auf dem engern Gebiete der Litteratur hat der charakteristische russische Realismus, teilweise unter dem Einfluß der französischen naturalistischen Schule, eine sichtliche Schwenkung in letzterer Richtung gethan, die für das litterarische Schaffen im allgemeinen keineswegs vorteilhaft gewesen ist. Mit Vorliebe werden in kleinern Erzählungen und Skizzen in naturalistischer Beleuchtung Sittenschilderungen entworfen, soziale Konflikte und psychologische Probleme gestreift, aber zu größern gediegenern Produktionen gebricht es den gegenwärtigen jüngern Vertretern der Tageslitteratur an tieferer schöpferischer Kraft und höherm geistigen Aufschwung, wobei der Druck, der auf dem politischen und öffentlichen Leben Rußlands in der gegenwärtigen Reaktionsperiode lastet und die Behandlung mancher Stoffe aus dem russischen sozialen Leben einschränkt, jedoch auch seine Rolle spielen mag.

Roman und Erzählung.

Das bedeutendste Talent des modernen Rußland, Graf Leo Tolstoi, setzt das Gold seiner großen Kunst immer mehr in Scheidemünze um, sich in Irrwegen scholastischer Deutungen, didaktischer Phantasien, sozialen Moralisierens verlierend. In der Erzählung »Die Kreutzer-Sonate« bietet er einen Beitrag zur Frage von der Ehe und kommt zum Ergebnis, daß angeblich neunundneunzig Hundertstel aller Ehen auf Lüge und Haß basieren, ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit seien, und daß ferner nur die Sinnlichkeit den Mann zum Weibe, das Weib zum Manne treibe, weshalb die Ehe ein Hindernis sei für alles höhere, rein geistige Thun und Schaffen; nur im Zustand der Ehelosigkeit und der Askese könne Großes geleistet werden, wie dies nach Tolstois Auffassung auch das Christentum predige. Nur im letzten Viertel atmet die unerquickliche Erzählung dichterische Kraft, während die ersten drei Viertel in einseitigen und wirren Ausführungen die vermeintlich totale sittliche Verwilderung der modernen Gesellschaft durch geschlechtliche Ausschweifung behandeln. In Rußland lief die Erzählung nur als Manuskript um, da sie von der Zensur verboten war. In einer andern, besser geschriebenen Erzählung, »Der Tod von Iwan Iljitsch«, enthüllt er, teilweise direkt didaktische Zwecke verfolgend, mit großer realistischer Schärfe in der Person des höhern russischen Beamten Iwan Iljitsch Golowin die Tragik eines Menschenlebens, dem am Ausgang desselben das Bewußtsein aufdämmert, wie alles, was während dieses Lebens geleistet worden ist, verkehrt und verfehlt war. Eine Reihe kleinerer Erzählungen hat Tolstoi für das Volk geschrieben, deren rein litterarischer Wert nicht bedeutend ist. Einige muntern in glücklicher Weise zur echten Frömmigkeit und Einkehr in sich selbst auf, andre hingegen mit satirischer Pointe sind total verfehlt, so namentlich die »Fabel von Iwan dem Einfältigen und seinen beiden Brüdern«, in welcher die Geistesarbeit verspottet und die physische Arbeit als einzig heilsam gefeiert wird, entsprechend der kulturfeindlichen, Kunst und Wissenschaft mißachtenden Richtung Tolstois, der in krankhafter Verbildung des Geistes das Bedeutendste, was er geleistet, nun selbst verleugnet. Der greise Belletrist Iwan Gontscharow hat prächtige Typen aus der alten Zeit der Leibeigenschaft geschildert in den Erzählungen: »Diener« und »Aus der Universitätszeit«. Dieselbe Periode hat der 1889 verstorbene Satiriker Stschedrin-Saltykow in den meisterhaft und lebendig geschriebenen Aufzeichnungen »Der alte Poschechonje« behandelt. Ferner hat er in einer Reihe von Skizzen: »Des Lebens Kleinigkeiten«, viele charakteristische Figuren aus dem russischen Leben mit großem Talent vorgeführt und in den »Bunten Briefen« über manche Erscheinungen der russischen Gegenwart in seiner originellen, von warmem Gefühl durchdrungenen Weise die Geißel der Satire geschwungen. Die feinsinnige, idealistische, 1889 gestorbene Schriftstellerin W. Krestowskij (Pseudonym) ist durch die fein ausgefeilte Skizze »Wie Menschen leben« und durch die handlungsarme, aber warmblütige Erzählung »Pflichten« vertreten, während ihr Namensvetter Wssewolod Krestowskij in zwei langen Romanen: »Ägyptische Finsternis« und »Tamara Bendavid«, talentvoll, aber tendenziös antisemitisch, Sein und Gebaren der russischen Juden schildert. Dessen Tochter Marie Krestowskaja entfaltete in mehreren kleinen Romanen, unter denen namentlich »Frühgewitter« zu nennen ist, eine frische, junge Begabung für Schilderung weiblicher Charaktere. Olga Schapir, eine recht fruchtbare Erzählerin, bot unter mehreren schwächern Werken den Roman »Ohne Liebe«, in welchem die Auflösung der Familie, in welcher die Liebe fehlt, recht bewegt gezeichnet wird. Der ganz in den Fußstapfen der französischen Impressionisten wandelnde Peter Bobdrykin hat hauptsächlich einen Roman: »In der Ebbe«, erscheinen lassen, in welchem er ziemlich prägnant einige Figuren und Strömungen aus der unmittelbaren Gegenwart der décadence zeichnet, obwohl der Roman sonst ziemlich konfus geschrieben ist; daneben ist auch dessen Roman »Die Neuen« zu nennen, der gleichfalls werdende Typen der neuen russischen Gesellschaft behandelt. Die in den aristokratischen Teilen derselben mehrfach zu Tage tretende materialistische Richtung, welche nur leichten Lebensgenuß erstrebt, schildert nicht ohne Talent Murawlin (Fürst Dmitri Golizyn) in mehreren kleinen Romanen: »Das Übel«, »Die Fürsten«, »Rubel«, »Du sollst nicht töten« (gegen die »Kreutzer-Sonate« Tolstois gerichtet), die jedoch von einer gewissen tendenziösen Einseitigkeit nicht frei sind. Aus derselben Gesellschaft greift auch Grigorowitsch, einer der verdienten ältern russischen Schriftsteller, in der Erzählung »Akrobaten der Wohlthätigkeit« einige Figuren heraus, die aus egoistischen Zwecken geübte Wohlthätigkeit geißelnd; derselbe Schriftsteller hat noch ein paar andre hübsche Erzählungen verfaßt, darunter: »Der Kautschukknabe« und »Die Liebe ist blind«. Von Jakob Polonskij, einem der bedeutendsten russischen Lyriker, erschienen der Roman »Eine billige Stadt«, dessen Held unter durchsichtigem Namen der begabteste russische Kritiker W. Belinskij ist, ferner mehrere Erzählungen, die jedoch sehr wenig gleichwertig sind, und deren bedeutendste ist: »Die Bekenntnisse Sergei Tschalygins«. Der sehr begabte, wenn auch nach Originalität oft haschende N. Ljesskow, der durch seine in die Tiefe gehenden psychologischen Schilderungen bemerkenswert ist, hat sich in der letzten Zeit hauptsächlich der modernisierten Verarbeitung alter russischer Legenden zugewandt, die in seiner freien künstlerischen Umgestaltung viel Interesse weckten, so: »Der gewissenhafte Danila«, »Die schöne Asa«, »Der Räuber von Ascalon«. Als ein Belletrist aus dem konservativen Lager schildert K. Orlowskij (K. Golowin) in dem Roman »Die Jugend« recht zutreffend, wenn auch mit tendenziösern Seitenhieben auf den Petersburger Liberalismus einige Vertreter der Jugend aus verschiedenen Kreisen in den Jahren, welche dem Attentat vom 13. März 1881 kurz vorhergingen. Ebenso tendenziös