Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russische Litteratur

794

Russische Litteratur (1885-90).

gegen den Liberalismus und mit etwas mystischem Anstrich, wenn auch sonst talentvoll, ist der Roman »Der dunkle Weg« von Kot Murlyka (Kater Murr, Pseudonym für Prof. N. Wagner). Aus der Gruppe derjenigen Schriftsteller, die dem Lesebedürfnis der Menge in mehr oder weniger guter belletristischer Form entgegenkommen, sind zu nennen: A. Michailow (A. Scheller) mit seinem Roman »Am Abgrund«; W. Nemirowitsch-Dantschenko, ein sehr fruchtbarer, lebendig schreibender und vielgelesener Erzähler, mit den Romanen: »In eiserner Faust«, »Sumpfflammen« und »Das Leben, wie es ist«; Jassinskij, ein jüngerer begabter Erzähler, mit den Romanen: »Tragiker«, »Irinarch Plutarchow«, »Der Schatz«. Manche treffliche Sittenschilderungen aus dem eigentümlichen sibirischen Leben bot D. Mamin in einigen Erzählungen und in dem Roman »Die Ader«. Eine Reihe jüngerer litterarischer Kräfte bewegte sich mit Vorliebe in der engern Form der Skizzen und Studien, so vor allem A. Tschechow in seinen beiden Sammlungen: »Erzählungen« und »In der Dämmerstunde«, in welchen neben vielem Richtigen auch manch scharf erfaßtes Lebensbild bei warmem Sinne für die Natur und für die Menschen sich findet. Durch viel Wärme mit pessimistischer Grundstimmung zeichnen sich die Skizzen von K. Baranzewitsch, »Kleine Erzählungen«, aus. Über das Skizzenhafte kommt trotz verschiedener Anläufe auch Wladimir Korolenko in seinen »Skizzen und Erzählungen« nicht hinaus, in denen die Einfachheit und der künstlerische Sinn der Darstellung angenehm den Leser berühren. Hingegen wirkt bei Matschtett in den »Novellen und Erzählungen« und »Silhouetten« bei guter Beobachtungsgabe und lebensvoller Schilderung störend eine gewisse Effektsucht. In den »Erzählungen und Skizzen« M. Albows bildet den Hauptreiz die meist fein ausgearbeitete psychologische Analyse. Karonin (Petropawlowskij) zeigt in seinen »Erzählungen« realistische Schärfe, aber auch die unglückliche Neigung, von dem angeblich gesunden »Dorf« die Heilung für die »kranke« Intelligenz zu erwarten; so ziemlich dieselbe Richtung hält auch Gljeb Uspenskij in vielen seiner ermüdend weitschweifigen Erzählungen ein. Das Gebiet der historischen Erzählung pflegte mit Geschick G. Danilewskij (gest. 1890) in »Moskau in Flammen« u. »Das schwarze Jahr«; Graf E. Sailhias hat auch mehrere historische Erzählungen: »Die Kammerjungfer«, »Araktschejews Sohn«, geschrieben, die jedoch hinter seinen frühern Werken bedeutend zurückbleiben. D. Mordowzews Roman aus den Zeiten der Kaiserin Katharina und Rasins Aufstand, »Für wessen Schuld?«, sowie andre historische Erzählungen desselben Verfassers sind recht lebendig, aber sehr gedehnt geschrieben. In dem Roman »Zwei Brüder« schildert N. Polewei die beiden interessanten Figuren aus der Zeit Peters d. Gr.: Fürst Wassili und Fürst Boris Golizyn.

Lyrik und Drama.

Das Gebiet der Lyrik wird gegenwärtig in Rußland recht eifrig gepflegt. Auf demselben hat sich auch ein fürstlicher Dichter hervorgethan, der unter den Initialen K. R. (Konstantin Romanow) schreibende Großfürst Konstantin Konstantinowitsch, ein Vetter des Zaren, Sohn des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch. Seine »Gedichte« (2 Bde.) zeichnen sich durch Gefühl und Stimmung, graziöse Form und geschmeidigen Vers aus. Ein nicht unbedeutendes lyrisches Talent entfaltete der zeitweilig in einem Irrenhaus gewesene K. Fofanow in seinen »Gedichten«, in denen eine frische, bilderreiche Phantasie sich in künstlerischer Weise mit warmer Empfindung und tieferm Gehalt verbindet. Etwas schwerfälliger ist die lyrische Dichtung Minskijs (Nikolai Wilenkin), durch dessen »Gedichte« ein stark pessimistischer Zug hindurchgeht, zum Teil hervorgehend aus den Klagen um die Schicksale seines Vaterlandes, das sich nicht zu Freiheit und Licht hindurch zu kämpfen vermag; seine Dichtung ist, ein reicheres Stoffgebiet umfassend, oft von schönem, poetischem Schwung. Ähnlich verhält es sich auch um die »Gedanken und Lieder« von S. Frug, der gern hebräische Motive verarbeitet, und dessen Lyrik ein grüblerischer Ernst eigen ist. Der Reiz der »Gedichte« von A. Apuchtin beruht hauptsächlich auf der einfachen künstlerischen Grazie seines melodischen Verses und seiner weichen elegischen Stimmung, welche in den »Gedichten« von S. Andrejewskij in oft verzweiflungsvolle Schwermut über das Vergängliche alles Irdischen übergeht. Des 1887 verstorbenen Nadsson »Gedichte« spiegeln mit innigem Wahrheitston Erlebtes und Empfundenes, sind aber in der Form oft zu wenig durchgebildet, was zuweilen auch bei Andrejewskij vorkommt. Unter den ältern russischen Lyrikern haben namentlich Jakob Polonskij und Apollonius Maikow in verschiedenen Journalen einzelne gute Gedichte veröffentlicht (letzterer unter anderm das schöne Poem »Brunhilde« im »Russki Westnik«); ferner haben zwei Lyriker von Talent, Graf A. Golenistschew-Kutusow und Fürst D. Zertelew, sich durch viele stimmungsvolle Gedichte hervorgethan, und letzterer auch durch eine sehr getreue und geschickte Übersetzung vieler Szenen aus Goethes »Faust«. Gute Übersetzungen von Gedichten Goethes, Schillers und Heines hat auch L. Michailow in seinen »Gedichten« geliefert. Die satirischen Gedichte W. Burenins: »Pfeile«, richten sich mit manchem treffenden Schlage gegen verschiedene Erscheinungen des Tages.

Auf dramatischem Gebiet hat des Grafen L. Tolstoi Trauerspiel »Die Macht der Finsternis« das meiste Aufsehen gemacht. Es ist ein Werk naturalistischen Gepräges, das einige packende dramatische Szenen hat, aber künstlerisch unverarbeitet ist, mit grausen Effekten operiert und direkt didaktische Zwecke der Volksunterweisung verfolgt. Die Ausführung desselben ist in Rußland verboten. Noch deutlicher als in diesem Drama hat Graf Tolstoi seinen kulturfeindlichen Tendenzen in dem Lustspiel »Die Früchte der Aufklärung« Ausdruck gegeben, in welchem der Hypnotismus als eine Frucht der Aufklärung verspottet wird, wobei verschiedene Seitenhiebe gegen moderne Wissenschaft und Kultur überhaupt gerichtet werden; das Stück ist stellenweise witzig, aber ganz formlos und besteht nur aus aneinander gereihten Szenen ohne innern Zusammenhang. Das hohe Drama fand sehr geringe Pflege; es sind nur zu nennen zwei mittelmäßige Dramen von Buren in: »Der Tod der Agrippina« und »Theodora«. Unter den Werken, die durch die Bühne bekannt geworden sind, gibt es auch nur wenige, die einigermaßen litterarischen Wert haben. Im allgemeinen bewegt sich die russische Bühnendichtung ganz in den Bahnen der französischen Theaterstücke, hauptsächlich nur die aus ehelichen Mißverhältnissen hervorgehenden Konflikte behandelnd, und zwar in ausgesprochen realistischer Richtung. So A. Tschechow in seinem Trauerspiel »Iwanow«, in welchem der Titelheld jenem Kreise der halt- und charakterlosen Vertreter der russischen Gesellschaft entnommen ist, die an der eignen Unklarheit und Unbestimmtheit zu Grunde gehen, nach-^[folgende Seite]