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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Theologische Litteratur

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Theologische Litteratur (neutestamentliche Kritik, Dogmengeschichte etc.).

Tübingen und Göttingen stattgehabten Auseinandersetzung gewesen? Ritschl hat im Verein mit andern die Tübinger geschlagen in Bezug auf die von den letztern behauptete Priorität des Matthäus-Evangeliums, die heutzutage nur noch ganz ausnahmsweise von Hilgenfeld und Holsten behauptet wird, vom Schwarme der allenthalben nur traditionellen Spuren Folgenden abgesehen. Die Tübinger haben gesiegt in der Auffassung des vierten Evangeliums als einer zumeist idealen Gesichtspunkten folgenden Komposition des 2. Jahrhunderts. Hier haben sich selbst sehr gemäßigte Theologen, wie Immer, Mangold, Schürer, dem Eindruck der geltend gemachten Gründe nicht entziehen können, während Ritschl der Tradition mit einer gewissen Reserve recht gab, seine Schüler bald Vermittelungs- und Teilungshypothesen aufstellten, vermöge welcher doch ein guter Teil historischen Charakters in die Brüche ging, bald den apostolischen Charakter des Evangeliums, wenn auch unter Protest gegen die Tübinger Theorie, geradezu aufgaben. Auf dem Gebiete der Paulinischen Litteratur, wo Baur nur die vier großen Briefe unangetastet stehen gelassen hatte, war schon durch Hilgenfeld und andre eine rückläufige Bewegung eingetreten, und man hat sich in letzter Zeit sogar auf konservativer Seite daran gewöhnt, nicht bloß den Hebräerbrief, sondern auch die Pastoralbriefe auszuscheiden. Wie hier im Grunde kein Gegensatz mehr statthat (denn von dem Versuch, alle Paulusbriefe für unecht zu erklären, wird es bald wieder still sein), so steht auch in Bezug auf die Geschichtlichkeit des Berichts der Apostelgeschichte nur noch das Mehr oder Weniger zur Debatte aus. Im allgemeinen hat man eingesehen, daß sich hier alles um die noch schwebende Frage nach den Quellenverhältnissen dreht. Bezüglich der Apokalypse hat gerade die gegen Tübingen Front machende Richtung die Tübinger Position weit nach der Negation hin verschoben. Nicht bloß verlegt sie die Entstehung des Werkes um ein Menschenalter später, sondern führt es auch auf jüdische Quellen zurück, so daß die einst von Baur und seinen Schülern behauptete Abfassung durch den Apostel höchstens als Möglichkeit noch Bestand hat. Es bleiben somit bloß die katholischen Briefe als eigentliches Kampfobjekt übrig. In diesen dem Petrus, Jakobus, Johannes und Judas zugeschriebenen Schriftstücken finden die tendenziös konservativen wie die naiv gläubigen Instinkte das sicherste Asyl für ihre Ideale und Phantasien; man proklamiert sie teilweise als älteste Urkunden der Christenheit, als Vorbedingungen des Paulinismus, während die kritische Schule ganz einstimmig nur Rückbildungen, Popularisierungen und Zurechtlegungen des urchristlichen und Paulinischen Gedankengehalts zum Gebrauch für die werdende oder gewordene Kirche darin zu erblicken vermag. Von Wichtigkeit ist diese Kontroverse immerhin. Denn, wie der neueste Kommentator dieser Briefe, der Berliner Prediger H. v. Soden, treffend sagt, »von der Entscheidung der schwebenden Fragen betreffs ersten Petrus-, Jakobus- und Hebräerbrief hängt nicht weniger als der ganze Aufriß der Geschichte des apostolischen Zeitalters ab, d. h. es entscheidet sich mit ihnen die Frage über die Gruppierung und die gegenseitige geschichtliche Auseinandersetzung der Momente, welche bei der Verpflanzung des christlichen Glaubens in die Menschenwelt bestimmend waren« (»Handkommentar zum Neuen Testament« von Holtzmann, Lipsius, Schmiedel, v. Soden, 1890, Bd. 3, Teil 2, S. 3). Aber gerade dieser neueste Erklärer hat die Forschung wieder in die unvermeidlichen Wege gewiesen, und er kann sich dabei auf die Zustimmung von Gelehrten aus der Ritschlschen Schule vom Range A. Harnacks berufen. Das eine wenigstens wird sich der Einsichtsvolle aus dem Gesagten abstrahieren, daß es auf dem Gebiete der neutestamentlichen Kritik mit nichten so tumultuarisch und anarchisch hergeht, wie die tendenziöse Angstmacherei einer zur Aufrechterhaltung des Überlieferten verschworenen Koterie uns glauben machen will. Der eben genannte Gelehrte hat treffend die Unwissenheit als »die Großmacht in den theologischen Kämpfen der Gegenwart« bezeichnet (»Dogmengeschichte«, Bd. 3, S. 8). Nur solange diese Großmacht auch die landesübliche Beurteilung der Arbeiten biblischer Kritik beherrscht, wird es möglich sein, die zusammenhängende Einheit und Geschlossenheit zu verkennen, welche das Bild der neutestamentlichen Forschung der letzten 100 Jahre darstellt.

Wir haben soeben einen Gelehrten genannt, welcher in seinem »Lehrbuch der Dogmengeschichte« (2. Aufl. 1887-88, 3 Bde.) die belehrende und nicht selten fast ergreifende und erschütternde Darstellung dessen gegeben hat, was aus der neutestamentlichen Gedankenwelt, nachdem sie einmal in den großen, aber trüben Strom des populären Hellenismus eingemündet war, im Laufe eines Jahrtausends geworden ist. Wer das historische Christentum (wir meinen damit eben nicht das ideale, mehr oder weniger auch ursprüngliche) kennen lernen, wer namentlich die Ingredienzien namhaft gemacht wissen will, welche unserm abendländischen, lateinischen und schließlich auch lutherischen Christentum seinen spezifischen Geschmack verliehen haben, der sei auf dieses bedeutendste theologische Werk der unmittelbaren Gegenwart verwiesen. Im übrigen enthalten wir uns hier eines nähern Eingehens auf die historischen Leistungen der theologischen Fachgelehrsamkeit, da dieselben in dem gleichen Maße, wie sie Beachtung und Anerkennung gefunden haben, auch aus dem engen Rahmen der Fachgelehrsamkeit heraustreten und sich den Arbeiten der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft ebenso eingliedern wie die sprachlichen Forschungen der alttestamentlichen Gelehrsamkeit den orientalischen Studien. Die kirchengeschichtlichen Zeitschriften, welche auf protestantischer (Brieger in der »Zeitschrift für Kirchengeschichte«) wie katholischer Seite (Denifle in dem »Archiv«) fortwährend nicht wenig neues Material beibringen, gehören mehr schon zum Apparat des Historikers als des Theologen.

Den Kreis, welchen dagegen die Interessen des letztern umschreiben, hat kürzlich bei Antritt seines Lehramtes in Basel Professor Duhm in einer Rede »über Ziel und Methode der theologischen Wissenschaft« (1889) einer kritischen Betrachtung unterworfen, welche hinausläuft auf die Notwendigkeit einer gründlichen Reform aller Disziplinen und vor allem auf Vermehrung derselben durch eine neue, sämtliche Religionen in ihrem Entwickelungsgang zur Darstellung bringende Disziplin. Derselbe Vorschlag wurde gleichzeitig von der »Revue de l'histoire des religions« durch Jean Réville gemacht in einem Aufsatz, überschrieben »L'enseignement de l'histoire des religions aux États-Unis et en Europe«. Angesichts dessen, was der eben Genannte und mehr noch sein Vater, Albert Réville, was gleichzeitig niederländische Forscher, zuletzt in besonders klarer und übersichtlicher Weise Chantepie de la Saussaye in seinem zweibändigen »Lehrbuch der Religionsgeschichte« (1887-89), geleistet haben, angesichts ferner der Thatsache, daß auch auf unsern Kathedern die allge-^[folgende Seite]