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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Bojardo

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Bojardo

B. ward nach dem Alter der Familien im Dienste des Staates bemessen. (S. Mestnitschestwo.) Die Stellung der B. war nie erblich, wenn auch gewöhnlich nur Söhne von B. diese Stellung erlangten. In der Gefolgschaft (s. Drushina) der Fürsten im 10. bis 12. Jahrh. spielen die B. eine sehr bedeutende Rolle. Als die Fürsten ansässig und Grundeigentümer wurden, wurden ihre B. es auch. Ihre Besitzungen bilden die ausgeprägteste Form des Eigentums an Grund und Boden. Daher heißt noch in späterer Zeit alles in Privatbesitz befindliche Land bojárskaja zemljá., selbst wenn es nicht B., sondern niedern Dienstleuten gehörte, und die Sklaven hießen bojárzkije ljúdi, auch wenn sie nicht B. gehörten. In den einzelnen russ. Fürstentümern bildete die Gesamtheit der B. den Landesverwaltungsrat des Fürsten. (S. Duma.) In Moskau leiteten unter den ersten Fürsten die erfahrenen B. die moskauische Politik. Da die moskauischen Großfürsten als Oberstatthalter der Mongolenchane die führende Macht unter den russ. Fürsten waren, so zogen sich die vornehmsten Bojarenfamilien aus den übrigen Fürstentümern nach Moskau und trugen dadurch wesentlich zur Stärkung Moskaus bei. Erst Iwan III. suchte sich vom Einfluß der B. unabhängig zu machen, ebenso sein Sohn Wassilij III. Während der Unmündigkeit von dessen Sohn, Iwan IV. dem Schrecklichen, wo die Regierung ganz in den Händen der B. war, überboten sich diese gegenseitig in Kabale und Willkürwirtschaft und pflanzten in die Seele des jungen Zaren jene blutdürstigen Triebe, die sich später so entsetzlich gegen sie kehrten, als er ihre Macht vernichtete und die reine Despotie durchführte. Übrigens hatten die B. nie irgend ein festes bestimmtes Recht beansprucht, sondern stets die absolute Macht des Großfürsten und Zaren in den Vordergrund gestellt, freilich sollte der absolute Zar nach ihrem Rat regieren. Nach dem Sturze des ersten falschen Demetrius wurde der B. Fürst Wassilij Schuijskij von den B. und ihrem Anhange zum Zaren ausgerufen. In seinem Manifest verpflichtete er sich eidlich, die Regierung nach gemeinsamem Rate zu führen. Nach seinem Sturze übernahmen sieben B. die Regierung, ließen sich huldigen und boten Wladislaw, dem Sohne Sigismunds III. von Polen, die Zarenwürde an. Die Wahlkapitulation kam zu stande, und Moskau erhielt eine poln. Besatzung. Mit der Verjagung der Polen hatte auch das Bojarenregiment ein Ende; die Heerführer beriefen einen Landestag. Der von diesem erwählte Zar Michael Romanow soll den B. gegenüber die Verpflichtung übernommen haben, niemand ohne Urteil und Recht zum Tode zu verurteilen oder seiner Güter zu berauben, die Regierung durch den Bojarenrat führen und nichts ohne Wissen desselben vornehmen zu wollen. Seinem Sohne Alexei ist eine solche Verpflichtung bei seiner Thronbesteigung von niemand abverlangt worden; er war eben geborener Zar. Unter ihm kam es auf, daß der Zar oft nur einzelne B. zu Beratungen berief und die wichtigsten Sachen allein entschied, sodaß die Bojaren-Duma an Bedeutung verlor. Peter d. Gr. hob mit den alten Dienstklassen (s. Dienstleute) die Bojarenwürde dadurch auf, daß er keine B. mehr ernannte. Am 16. Jan. 1750 starb der letzte russische B., Fürst Iwan Jurjewitsch Trubezkoi.

Bei den Rumänen der Donaufürstentümer führte die Benennung B. im frühern Mittelalter eine Art meist militär. Dienstadels, doch schon zu Anfang des 15. Jahrh. bedeutet dieser Titel ein bestimmtes Staatsamt. Eine Anzahl von 14 bis 16 B. bildete den Rat der Regierung. Diese mußten den Fürsten überall begleiten und Stellvertreter auf ihren Posten hinterlassen. Im Kriege waren die B. Anführer des Heers. Zur Zeit des militär. Verfalls der Fürstentümer (17. und 18. Jahrh.) wurden die Civilbeamten ebenfalls B. genannt. Diese waren aber Bojarensöhne, die als Großgrundbesitzer unentgeltlich Staatsdienste übernehmen mußten und dadurch auch den Adel in der Familie erhielten; erblich war der Bojarentitel indessen nie.

Bojardo, Matteo Maria, Graf von Scandiano, ital. Dichter, geb. gegen 1434 zu Scandiano, lebte in Ferrara am Hofe Borsos von Este, den er 1471 nach Rom begleitete, und Ercoles I. 1478 wurde ihm das Gouvernement von Reggio, 1481 das von Modena übergeben, 1487 wieder die Stadt- und Burghauptmannschaft von Reggio, welches Amt er bis zum Tode (20. Dez. 1494) bekleidete. Sein Hauptwerk bildet das der Karlssage (s. d.) zugehörige romantische Rittergedicht "Orlando innamorato", das er in drei Büchern oder 69 Gesängen unvollendet hinterließ (Fortsetzung u. a. von Niccolò degli Agostini, 33 Gesänge, in mehrern alten Ausgaben). Während die frühern Dichtungen über Roland ihren Helden nur als Vorkämpfer der Christenheit auffaßten, suchte B., vertraut mit den Gedichten des Arthurkreises, der Sage durch Einführung der Frauenminne, der Zaubereien, durch das ungläubige Lächeln, mit dem er dem Zeitgeiste gemäß hier und da den Stoff behandelt, einen neuen Charakter zu verleihen. Seine Phantasie ist äußerst reich; doch fehlt den Erfindungen inneres Gemütsleben. Immerhin hat er die Gattung des romantischen Rittergedichts geschaffen und seinen Nachfolgern, selbst Ariost, alle Charaktere und die Fäden, die sie leicht fortzuspinnen vermochten, geliefert. Sein Werk wurde bis 1544 (zuerst vollständig zu Scandiano 1495) 16mal gedruckt, schon im 16. Jahrh. ins Französische (von Vincent, Lyon 1544, Par. 1549 u. ö.; de Rosset, ebd. 1619; frei von Lesage, 2 Bde., ebd. 1717 u. ö.; Tressan, ebd. 1780 und 1822), neuerdings fast in alle lebende Sprachen (deutsch zuerst in Prosa von Benedicte Naubert, hg. von Schmidt, 3 Bde., Berl. 1819-20; am besten von Gries, 3 Bde., Stuttg. 1835-37, und Regis, Berl. 1840) übersetzt. Da B. in dem zu Ferrara gesprochenen Italienisch schrieb, erregte er bei den Florentinern Anstoß. Daher erschienen mehrere Umarbeitungen in reinem Toscanisch, von Berni (s. d.) 1541, Lodovico Domenichi 1545 (mit Agostinis Fortsetzung des B.), die jahrhundertelang das Original verdrängten. B.s eigene Fassung gab erst Panizzi wieder heraus (Orlando innomorato di B.: Orlando furioso di Ariosto, with an essay on the romantic narrative poetry of the Italians, memoirs and notes, 9 Bde., Lond. 1830-34). Unter B.s übrigen ital. und lat. Werken sind hervorzuheben: „Sonetti e canzoni" (Reggio 1499), in drei Büchern, meist an seine Geliebte Antonia Caprara gerichtet (neu hg. Mail. 1845), "Il Timone", ein fünfaktiges Lustspiel nach Lucian (Scandiano 1500; Ferrara 1809), ein lat. "Carmen bucolicum“ (Reggio 1500), "Asino d'oro" nach Apulejus (Vened. 1523). Auch übertrug er Herodot (ebd. 1533 u. ö.) sowie Riccobaldis "Chronicon Romanorum imperatorum" ins Italienische. Eine Auswahl von B.s "Poesie" gab Venturi mit Erläuterungen (Modena 1820) heraus.