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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Erblichkeit

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Erblichkeit

die Fettleibigkeit u. s. w. brechen bei den Kindern gewöhnlich erst zu der Zeit aus, wo diese Krankheiten überhaupt am häufigsten sind. Die Kinder schwindsüchtiger Eltern z. B. sind oft bis in das 20. und 25. Jahr ganz gesund und erkranken dann auf einmal und gewöhnlich viel schwerer als bei erworbener Tuberkulose; freilich sterben viele auch schon in den ersten Lebensjahren. Es kommt nicht selten vor, daß beide Eltern zur Zeit, wo sie die Kinder zeugten, noch ganz gesund zu sein schienen, daß aber der eine Erzeuger, aus einer schwindsüchtigen Familie stammend, den Keim der Krankheit schon in sich trug: die Kinder werden doch tuberkulös. Nicht immer sind es die gleichen Gebrechen und die gleichen Krankheitsanlagen, die in der Familie sich wiederholen, sondern häufig nur ähnliche Formen, die sogar, während sie dem einen Gliede zum Verderben dienen, dem andern zum größten Vorteil gereichen können. So ist es Thatsache, daß in Familien, in denen Geisteskrankheiten einheimisch sind, zugleich die intelligentesten und genialsten Köpfe vorkommen. Noch merkwürdiger ist, wie oft zwei ganz gesunde Eltern fast lauter Kinder mit Mißbildungen oder Gebrechen hervorbringen; gewöhnlich handelt es sich hier um Rückschläge auf die Großeltern oder noch entferntere Ahnen. (S. Erblichkeit.)

Die physiol. Gesetze, nach denen die erbliche Übertragung von Krankheitsanlagen vor sich geht, sind noch völlig unbekannt. Der Einfluß des Vaters hinsichtlich der Vererbung von Krankheitsanlagen kann natürlich nur während der Zeugung stattfinden; die Mutter wirkt dagegen auch während der Schwangerschaft und während des Stillens noch auf das Kind, und es ist die Möglichkeit zuzugestehen, daß auch hierdurch noch die Gelegenheit zu E. K., namentlich der Tuberkulose, gegeben wird.

Für die Behandlung der erblichen Familienübel ist es von der größten Wichtigkeit, daß man ihre Entstehung und Ausbildung durch zweckmäßige Verhaltungsmaßregeln schon beizeiten zu hindern sucht. Wer eine erbliche Anlage besitzt, der heirate keine Person, welche dieselbe Anlage ererbt hat, sondern eine solche, welche von entgegengesetzter Konstitution ist. Da bei der Bildung des Embryo (s. d.) männliche und weibliche Zeugungsstoffe zusammenwirken, so kann durch Übergewicht von einer Seite her der Einfluß von der andern eliminiert und aufgehoben werden. Aus diesem Grunde ist eine vernünftige geschlechtliche Auslese und die durch sie bedingte Kreuzung (s. d.) der Stämme das beste Mittel, um der Ausartung der Geschlechter vorzubeugen, während bekanntlich durch fortgesetzte Inzucht oder Heiraten unter nahen Verwandten sich gewisse Familienzüge und Familienübel bis zum Extrem ausbilden und fortpflanzen. Namentlich ist vom Kretinismus und von der Idiotie bekannt, wie sie durch Heiraten unter nahen Verwandten befördert, durch Ehen mit Stammes- und Landesfremden aber beschränkt werden. Man richte weiterhin bei dem Verdachte einer erblichen Krankheitsübertragung von der Geburt an alle Umstände, unter denen das Kind lebt, so ein, daß die ererbte Anlage nicht nur nicht befördert, sondern im Gegenteil möglichst wirksam bekämpft wird. Man sorge zu diesem Behufe für eine verständige Kräftigung und Abhärtung (s. d.) des Körpers, wobei namentlich der möglichst ungeschmälerte Aufenthalt in guter reiner Luft von Bedeutung ist, und suche namentlich in dem Lebensalter, in welchem die Krankheit bei den Eltern entstanden war, alle jene zufälligen Gelegenheitsursachen möglichst fern zu halten, die erfahrungsgemäß die Entstehung der betreffenden erblichen Krankheit begünstigen. - Vgl. Bollinger, Über Vererbung von Krankheiten (Stuttg. 1882).

Erblichkeit, im biologischen Sinne die Fähigkeit des belebten Stoffs, seine Eigentümlichkeiten, die körperlichen sowohl wie die geistigen, in verschiedenem Umfange auf seine Nachkommenschaft durch den Weg der Fortpflanzung zu übertragen. Diese Übertragung selbst bezeichnet man als Vererbung (hereditas). So allgemein bekannt jene Fähigkeit und die daraus hervorgegangenen Erscheinungen sind, so schwer sind dieselben zu erklären. Eine Thatsache ist es, daß E. um so kräftiger wirkt und die Folgen der Vererbung um so deutlicher auftreten, je größer der bei der Fortpflanzung (s. d.) sich vom elterlichen Körper loslösende Teil ist. Am ähnlichsten untereinander sind zwei durch ganz gleichmäßig sich vollziehende Teilung eines Organismus hervorgegangene neue Organismen, sehr ähnlich noch solche (Hohltiere, Pflanzen), welche durch Knospung auf ungeschlechtlichem Wege hervorgebracht wurden. Manche Kulturgewächse (Rotbuchen, Trauereichen u. s. w.) vererben ihre Eigentümlichkeiten bloß dann, wenn ihre Nachkommen aus Senkern oder Stecklingen erzogen werden, während die aus den Geschlechtsprodukten hervorgegangene Nachkommenschaft in die Stammform zurückschlägt. Allerdings machen Arbeitsteilung (s. d.) und besondere Arten der Fortpflanzung (s. Generationswechsel und Fortpflanzung) verschiedene Knospen dem elterlichen Körper durch Sonderanpassungen oft sehr unähnlich. Man unterscheidet mit Haeckel zwei Arten und zwar: die erhaltende oder konservative E. und die fortschreitende oder progressive E. Kraft jener vererbt ein Organismus auf seine Nachkommen die selbst ererbten, kraft dieser die selbständig erworbenen Eigenschaften; gälte bloß die erstere und hätte immer ausschließlich gegolten, so würde ein Organismus wie der andere beschaffen sein; dadurch aber, daß die zweite Art ihre Wirkung mit geltend macht, entsteht die Mannigfaltigkeit, zu welcher sich die Lebewesen im Laufe der Zeiten entwickelt haben. Durch die erhaltende E. übertragen Organismen ihre Eigenschaften entweder sämtlich auf ihre Nachkommenschaft schon in der ersten Generation, also auf ihre Kinder, dann ist die Vererbung eine ununterbrochene, oder aber ein größerer oder kleinerer Teil ihrer Charaktere verschwindet in dieser nächsten Generation oder während einer verschieden großen, oft sehr langen Reihe von Generationen, um dann in gesetzmäßigem Wechsel als normale Erscheinungen (im Generationswechsel und in der Heterogenie, s. d. und Fortpflanzung), oder um nur gelegentlich einmal und scheinbar in ganz willkürlicher Weise bei einem oder dem andern Nachkommen auf einer oder der andern Generationsstufe wieder aufzutreten. In diesem Falle war die Vererbung eine unterbrochene oder latente und das Individuum, bei welchem sich ihre Kraft wieder geltend macht, zeigte einen Rückschlag auf seine Vorfahren, es befindet sich im Atavismus. Am häufigsten treten Rückschläge und oft nach sehr langer Zeit bei domestizierten Pflanzen und Tieren dann auf, wenn sich dieselben von der Zucht des Menschen emancipiert haben und in den Zustand