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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Gewerbegerichte

Anzahl von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ihre Kompetenz erstreckt sich auf Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie den letztern unter sich, wenn sich die Zwistigkeiten auf die Berufsarbeit und das Arbeitsverhältnis beziehen. Außerdem haben sie einige administrative Funktionen zu verrichten, wie Überwachung der Aufrechterhaltung der Rechte an den bei ihnen hinterlegten Fabrikmarken und Mustern, Entgegennahme schriftlich geschlossener Lehrverträge u. s. w. 1886 bestanden 136 Conseils de Prud’hommes. Seit einiger Zeit plant man Reformen dieser Gerichte, die jedoch noch zu keinem Ergebnis geführt haben.

Von Frankreich aus haben diese Gerichte ihren Weg nach Belgien, Rheinpreußen, Elsaß-Lothringen und den schweiz. Kantonen Genf (3. Okt. 1883) und Neuenburg (20. Nov. 1885) genommen. In Italien sind seit 1894 die Collegi dei probi-viri errichtet, die sowohl als Einigungsamt, als auch als Schiedsgericht dienen. Die Errichtung dieser Ämter ist nicht obligatorisch.

Den französischen ähnliche Gerichte sind die in Österreich durch das Gesetz vom 14. Mai 1869 ins Leben gerufenen. Sie bestehen in nur sehr geringer Zahl, in Wien, Brünn, Reichenberg und Bielitz. Durch die Gewerbeordnung vom 8. März 1885 sind schiedsgerichtliche Kollegien (§§. 87‒87c) und schiedsrichterliche Ausschüsse der Genossenschaften (§§. 122‒124) geschaffen worden. Da man mit deren Wirksamkeit jedoch keineswegs zufrieden ist, so ist neuerdings im Abgeordnetenhause ein Entwurf, die Einführung neuer fakultativer Gewerbegerichte betreffend, erörtert worden, der sich in vielen Punkten an das deutsche Gesetz anschließt. In Ungarn verrichten die auf Artikel ⅩⅦ des Gesetzes von 1884 beruhenden Einigungskommissionen der Gewerbekorporationen die Leistungen der Gewerbegerichte. In England wird die gesamte gewerbliche Rechtspflege von den bürgerlichen Gerichten geübt. Die engl. Grafschaftsgerichte, die schott. Sheriffsgerichte und die irischen Civilgerichte erscheinen als die für die Behandlung der hier fraglichen Angelegenheiten verordneten Spruchbehörden. Die St. Leonards-Akte von 1867, welche die Councils of conciliation, d. h. eigene ständige Gerichtsinstanzen für Arbeitsstreitigkeiten zu schaffen beabsichtigte, ist toter Buchstabe geblieben.

Ⅱ. Die Einigungsämter unterscheiden sich von den Gewerbegerichten wesentlich dadurch, daß die letztern nur Rechtsstreitigkeiten auf Grund bestehender Arbeitsverträge oder Gebräuche entscheiden, während die Einigungsämter in erster Linie das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern für die Zukunft gemeinsam feststellen und hierdurch Arbeitseinstellungen verhüten, erst in zweiter Linie Streitigkeiten über die Anwendung der vereinbarten Bestimmungen beilegen oder entscheiden sollen (wozu in der Regel ein engerer Ausschuß erwählt wird). Dem entsprechend sind die Entscheidungen der Einigungsämter nur verbindlich für diejenigen Gewerbsgenossen, die sich freiwillig an denselben Einigungsämtern beteiligen. Das erste Einigungsamt (Board of arbitration and conciliation) wurde 1860 in England in dem großen Strumpfwirkergewerk zu Nottingham auf Veranlassung des Fabrikanten Mundella gegründet, um die gerade dort seit Menschenaltern in heftigster Weise geführten Arbeitskämpfe zu beseitigen. Da dieser Versuch vollständig gelang, so breiteten sich die Einigungsämter über viele andere Gewerbe und Industriebezirke Englands aus. Daneben entstanden seit 1865 durch den Grafschaftsrichter Kettle in Wolverhampton zunächst im Baugewerbe zu gleichem Zwecke die Courts of arbitration (Schiedshöfe), die sich durch die notwendige Beteiligung eines unparteiischen Obmanns und die gerichtliche Vollstreckbarkeit ihrer Beschlüsse von jenen unterscheiden. Letztere ist durch das Gesetz vom 6. Aug. 1872 noch bedeutend erleichtert worden, und das Kettlesche System scheint in England überwiegend zur Geltung zu kommen. Sowohl die Einigungsämter als die Schiedshöfe haben sich überall da, wo sie einmal eingeführt wurden, ausnahmslos behauptet und bewährt; Arbeitseinstellungen und Aussperrungen kommen vorzugsweise nur in solchen Gewerben und Orten noch vor, wo Einigungsämter bisher nicht begründet worden sind. 1894 ist das sog. Einigungsgesetz erlassen worden, das dem Handelsamt die Befugnis einräumt, bei Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern die streitenden Parteien zur Bildung eines Einigungsausschusses aufzufordern und eine Enquete über Ursachen und Einzelheiten der Streitigkeiten zu veranlassen. In Deutschland wurden die Einigungsämter nach Mundellas Muster seit 1870 hauptsächlich durch die Bemühungen der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine eingeführt; 1873 errichteten die Buchdrucker (Prinzipale und Gehilfen) ein Einigungsamt für ganz Deutschland als Rekursinstanz von den Schiedsämtern und als Tarifrevisionskommission. Diese Einrichtung wurde im J. 1878 aufgehoben, 1886 wieder eingeführt, nach dem Buchdruckerstreik 1892 abermals aufgehoben. (S. Schiedsrichter.)

Nach dem Reichsgesetz, betreffend die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890, kann auch das Gewerbegericht in Fällen von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses als Einigungsamt angerufen werden. Das Gewerbegericht, das als Einigungsamt thätig wird, soll neben dem Vorsitzenden mit 4 Beisitzern, Arbeitgeber und Arbeiter in gleicher Zahl, besetzt sein. Doch kann ihre Zahl durch Vertrauensmänner verstärkt werden. Es hat zunächst den Thatbestand festzustellen, zu welchem Zwecke Auskunftspersonen vernommen werden können. Dann findet ein Einigungsversuch statt. Beim Mißlingen desselben ist ein Schiedsspruch abzugeben, der sich auf alle zwischen den Parteien streitigen Fragen zu erstrecken hat. Stehen bei der Beschlußfassung über diesen, in welcher einfache Stimmenmehrheit entscheidet, die Stimmen sämtlicher für die Arbeitgeber zugezogenen Beisitzer und Vertrauensmänner denjenigen sämtlicher für die Arbeiter zugezogenen gegenüber, so kann sich der Vorsitzende seiner Stimme enthalten und feststellen, daß ein Schiedsspruch nicht zu stande gekommen ist, was von dem Vorsitzenden öffentlich bekannt gemacht wird. Ist der Schiedsspruch zu stande gekommen, so haben sich die Vertreter beider streitenden Teile innerhalb einer gegebenen Frist zu erklären, ob sie sich dem Schiedsspruch unterwerfen. Die Nichtabgabe der Erklärung gilt als Ablehnung. Nach Ablauf der Frist hat das Einigungsamt den Schiedsspruch und die darauf abgegebene Erklärung der Parteien öffentlich bekannt zu machen (§§. 61‒69). Diese Anordnungen haben sich jedoch nicht bewährt, und die Gewerbegerichte haben seither nur selten Gelegenheit gehabt, als Einigungsämter thätig