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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Juden

Jerusalem und machte Judäa vom röm. Syrien abhängig. Antigonus, ein Sohn des Aristobulus, errang indes mit Hilfe der Parther 40 v. Chr. die Königswürde wieder. Allein Herodes, der Sohn des Landverwesers Antipater aus Idumäa, behauptete sich mit Hilfe der Römer, eroberte 37 v. Chr. Jerusalem und ließ den Antigonus und dessen Anhänger hinrichten. Nur durch ausländischen Beistand konnte der Fremdling sich behaupten und blieb verhaßt, obwohl er 19 v. Chr. den Tempel prächtig aufbaute. Er starb 4 v. Chr. Sein Sohn und Nachfolger Archelaus wurde 8 n. Chr. vom Kaiser Augustus abgesetzt, Judäa zu Syrien geschlagen und von Prokuratoren (Landpflegern) verwaltet. Kaiser Claudius erteilte allen J. des Römischen Reichs das Bürgerrecht. Doch die Willkürlichkeiten der Römer, die Gelderpressungen der Prokuratoren und der Parteihaß mehrten die Unzufriedenheit. Im J. 66 n. Chr. brach dieselbe in offene Empörung gegen Rom aus und endete nach einem, besonders durch die Zelotenpartei unterhaltenen hartnäckigen Kampfe Aug. 70 n. Chr. mit der Eroberung Jerusalems durch Titus, der Einäscherung des Tempels, der Niedermetzelung und Wegführung vieler Hunderttausende von J. Einzelne Kämpfe zogen sich bis 73 hin. Die J. wurden nach allen Ländern hin zerstreut. Besonders in den Küstenländern des Mittelmeers entstanden zahlreiche Judenkolonien. Während Kaiser Nerva die asiatischen J. schützte, hatten sie unter Trajanus eine um so härtere Behandlung zu erdulden. Ihre letzten Versuche, das röm. Joch abzuschütteln, unter Bar Kochba, endeten 135 n. Chr. unter dem Kaiser Hadrianus mit einem entsetzlichen Blutbad und der Verödung Judäas. - Vgl. E. Schürer, Geschichte des jüd. Volks im Zeitalter Jesu Christi, Tl. 1 (2. Aufl., Lpz. 1889-90).

Doch gerade diese furchtbaren Schläge waren es, die die J. von der einzigen ihrer Religion gefährlichen Partei, dem sadducäischen Priesteradel, gänzlich befreiten, da dieser mit der dauernden Entziehung des Tempels als Kultstätte von selbst verschwand. Die J. bildeten von da an eine einheitliche, den Entscheidungen des Lehrhauses, wie dieselben 210 in Mischna und Gemara (Talmud) um 500 niedergelegt wurden (s. Judentum und Jüdische Litteratur), sich widerspruchslos unterwerfende Gemeinde. Das Rätsel, daß eine so völlig wehrlos gemachte Gemeinde sich erhalten konnte bis auf den heutigen Tag, findet seine Lösung darin, daß dieselbe von dem Bewußtsein durchdrungen war, das auserwählte Volk Gottes zu sein, der diesem dereinst eine herrschende Stellung unter den Völkern des Erdkreises zu schaffen verpflichtet sei, wozu der Glaube kam, daß man durch pünktliche Beobachtung des Gesetzes gewissermaßen die Erfüllung dieser Verpflichtung von Gott erzwingen könne. Diese Hoffnungen bildeten auch das internationale Gemeinschaftsband der J. und schieden sie zugleich von allen Völkern, mit denen sie auf ihrer langen Wanderschaft zusammentrafen. Denn ein Wandervolk ward Israel fortan. Dadurch bekam seine Geschichte einen zwar reichen Inhalt, aber einen vielfach zersplitterten Charakter.

Seit der Vernichtung des nationalen jüdischen Staates hörte der bisherige Gegensatz des palästinischen Judentums und der Diaspora von selbst auf. Sogar das "Lehrhaus" wanderte nach Babylonien aus. Dort lebten die J. frei von Druck und konnten sich ganz dem Ausbau ihrer gesetzlichen Litteratur widmen, die in dem sog. babylon. Talmud (um 500) ihren Abschluß fand. - Im Römischen Reiche blieb trotz einzelner günstigerer Perioden unter Antoninus Pius und Alexander Severus die Lage der J. eine gedrückte. Namentlich wandte sich das unter Konstantin zur Staatsreligion erhobene Christentum (330) sofort feindlich gegen das Judentum. Im Oströmischen Reiche erließ besonders Justinianus 530 gehässige Gesetze gegen die J., woraus sich ihr Anschluß an die feindlichen Perser erklärt. Doch die plötzliche Wiedererstarkung des Byzantinischen Reichs unter Heraklius machte den Hoffnungen der J., die sich besonders in Palästina zu Ausschreitungen gegen die nichtjüd. Bevölkerung haben hinreißen lassen, ein jähes Ende. Im 8. Jahrh. trafen sie weitere Verfolgungen, die eine große jüd. Auswanderung in das Land der Chasaren an der Wolga veranlaßten, wo sie ein Reich gründeten, das unter einem selbständigen jüd. Könige bis ins 11. Jahrh. bestand.

Die staatlichen und religiösen Neubildungen des beginnenden Mittelalters fanden fast überall bereits jüd. Kolonisten vor. So das Ostgotenreich in Dacien, Illyrien und in ganz Italien. Namentlich hier hatten sie damals glückliche Zeiten. Selbst die Päpste, besonders Gregor d. Gr. (600), waren mild und gerecht gegen sie. Auch unter den Westgoten hatten sie es anfänglich gut, bis König Reccared von Spanien vom arianischen zum kath. Bekenntnis übertrat. Damit begannen 590 die Bedrückungen, denen bald Verfolgungen und Zwangstaufen nachfolgten. Der Islam, dessen Religion so viel jüd. Elemente in sich barg (vgl. A. Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judentum aufgenommen, Bonn 1833; H. Hirschfeld, Beiträge zur Erklärung des Koran, Lpz. 1886), war principiell gegen die J. duldsam, wenn hier und da auch vereinzelte Verfolgungen stattfanden. Nirgends ward ihnen in mohammed. Ländern die freie Übung ihrer Religion verwehrt. Unter diesen Umständen ist es erklärlich, daß sie die arab.-maur. Eroberer Spaniens als Erretter begrüßten und bei ihrem Einfall unterstützten (711). In Spanien hatten die J. dann auch unter dem Chalifat ihre glücklichste Zeit. Ihre Begabung für Finanzen und Diplomatie verschaffte ihnen hervorragende Stellungen im Staate. Infolge der Berührung mit der arab.-maur. Kultur entstand jene Blüte der Litteratur des span. Judentums, die zu den glänzendsten Erscheinungen seiner ganzen geistigen Kultur gehört. (Vgl. Jüdische Litteratur und M. Güdemann, Das jüd. Unterrichtswesen während der span.-arab. Periode, Wien 1873.) - Wie die jüd. Kolonisten Galliens unter röm. Herrschaft meist gute Tage gehabt hatten, so erfreuten sie sich auch im Frankenreich unter den merowing. und karoling. Herrschern einer milden Behandlung, ja unter Karl d. Gr. und Ludwig dem Frommen sogar einer gewissen Bevorzugung. Ein Symptom der Stellung, die sie damals hatten, ist der Übertritt Bodos, des Hofkaplans Ludwigs, zum Judentum. Große jüd. Gemeinden bestanden in Paris, Lyon, Toulouse, Narbonne und Lunel. Erst seit Agobard ("De Judaicis superstitionibus", "De insolentia Judaeorum"), der Erzbischof von Lyon war (gest. 841), begannen die Hetzereien des fanatischen Katholicismus, die später so traurige Folgen nach sich ziehen sollten.