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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Kirchengeschichte

die erst ein Produkt der neuern Zeit ist, betrachtet die K. als einen Teil der allgemeinen Geschichte und läßt sich darum auch von den Grundsätzen der allgemeinen Geschichtsforschung leiten, d. h. sie sucht, ohne sich durch das Urteil früherer Zeiten beeinflussen zu lassen, auf dem Wege der Quellenkritik die Thatsachen festzustellen und sie genetisch oder pragmatisch zu entwickeln. Man unterscheidet daher verschiedene Epochen kirchlicher Geschichtschreibung. (Vgl. F. Chr. Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung, Tüb. 1852.)

Der älteste Kirchengeschichtschreiber, dessen Werke noch erhalten sind, ist Eusebius (s. d.) von Cäsarea (um 325), dessen Werk zwar von dogmatischen Voraussetzungen beherrscht, aber ausgezeichnet ist durch Quellenmäßigkeit und zahlreiche Auszüge aus sonst verlorenen Schriften. Weniger wertvoll und in noch wundersüchtigerm Geiste gehalten sind die Werke seiner Fortsetzer in griech. Sprache: Sokrates, Sozomenos, Theodoret, Philostorgius, Theodorus Lektor und Euagrius. Die lat. Kirche lieferte durch Rufinus und Hieronymus Übersetzungen und Fortsetzungen des Eusebius, durch Sulpicius Severus die erste selbständige kirchengeschichtliche Arbeit und durch Cassiodorius (s. d.) im 6. Jahrh. in der "Historia tripartita" das kirchengeschichtliche Handbuch bis zur Reformation. Das Mittelalter brachte außer einer Unzahl von Heiligen- und Legendenschreibern namentlich zahlreiche Annalisten und Chronisten hervor, die im ausdrücklichen Interesse der Papstherrschaft ohne jedes geschichtliche Verständnis die K. bearbeiteten, wie Ordericus Vitalis (gest. 1142), Petrus Pisanus (12. Jahrh.), Martinus Polanus (gest. 1279), Tolomeo de Lucca (gest. 1327). Tüchtiges für die fränkische K. (bis 591) leistete Gregor von Tours, für die englische (bis 731) Beda, für die nordische (bis 1076) Adam von Bremen.

Die eigentliche Kirchengeschichtschreibung beginnt erst mit der Reformation, doch tritt sie zunächst noch in konfessionellem Gewande auf. In dem großartigen Werk der "Magdeburger Centurien" (s. Centurien) suchte ein Verein luth. Theologen, an ihrer Spitze Matthias Flacius, das Recht der Reformation durch den Nachweis eines tiefen Abfalls der kath. Kirche von ihrer ursprünglichen Reinheit in einer von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschreitenden Verderbnis, namentlich auf dem Gebiet der Lehre, zu begründen. Ihnen trat Cäsar Baronius (s. d.) 1588 mit seinen, später von dem Franziskanermönch Pagi kritisch berichtigten "Annales" gegenüber, die einen reichen Schatz unbekannter, meist dem Archiv des Vatikans entnommener Urkunden in den Dienst der kath. Kirche stellten und den Nachweis liefern wollten, daß die kirchlich kath. Tradition in Lehre und Verfassung die reine, von der Apostelzeit her unverändert gebliebene göttliche Wahrheit enthalte. Was Flacius in den "Centurien" vom lutherischen, versuchten Hottinger (s. d.), Spanheim (s. d.) und die beiden Basnages (s. d.) vom reform. Standpunkt aus. Der wissenschaftliche Charakter der K. erfuhr eine Förderung durch die in den verschiedenen Konfessionen ausbrechenden innern Streitigkeiten, auf kath. Seite die jansenistischen, auf lutherischer die synkretistischen und pietistischen. So haben nach Baronius insbesondere die gelehrten Mönchsorden in Frankreich, allen voran die Maurinerkongregation, großartige Materialiensammlungen für die K. veranstaltet, deren Verwertung Alexander Natalis, Claude Fleury (s. d.) und Bossuet (s. d.) im streng katholischen, der Jansenist Tillemont (s. d.) in kritischem Geiste unternahmen. In der luth. Kirche trat die K. erst durch G. Calixtus (s. d.) wieder in den Vordergrund und nun erhob der Vertreter des Pietismus, Gottfried Arnold (s. d.), in seiner "Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie" (Frankf. 1699 u. ö.) einen lebhaften Protest gegen die bisherige, durchaus dogmatische Behandlung der K., indem er das Hauptgewicht auf das praktische Christentum legte und die Hauptverderbnis in der Schultheologie und ihren dogmatischen Spitzfindigkeiten sah.

Im Gegensatz zu dieser immer noch von polemischen Interessen beherrschten Geschichtsbetrachtung entwickelte sich um die Mitte des 18. Jahrh. eine religiös-nüchterne, aber kritisch-wissenschaftliche Geschichtsbehandlung. Der eigentliche Begründer dieser modernen Geschichtschreibung ist Mosheim, der in Weisman einen nennenswerten Vorläufer hatte. Bei Mosheim verbindet sich mit tüchtiger Quellenforschung eine fließende Darstellung und ein feingebildetes Urteil, das aber, mehr staatsmännisch als theologisch, die Kirche selbst wie ein polit. Gemeinwesen und die K. nach Art der Staatengeschichte behandelt. Ein Riesenwerk quellenmäßiger Forschung lieferte Joh. Matth. Schröckh. Der Rationalismus, der auf dem Gebiete kirchlicher Geschichtschreibung besonders durch Semler, Stäudlin, Planck, Henke und Spittler vertreten wird, suchte die steten Veränderungen menschlicher Meinungen über religiöse Dinge und ihre volkstümliche und zeitliche Bedingtheit nachzuweisen und durch die sog. pragmatische Methode alle Ereignisse, Charaktere und Thaten aus psychol. Motiven zu erklären. Im Gegensatz zum Rationalismus und von Schleiermachers Geist berührt stellte August Neander (s. d.) die K. dar als die Einsenkung eines neuen, übernatürlichen, göttlichen Lebens in die Menschennatur und suchte, oft in mehr erbaulicher als rein histor. Weise, zu zeigen, wie das eine christl. Princip in freier individueller Mannigfaltigkeit die verschiedenartigsten, einander gegenseitig ergänzenden Geister beseelt habe. Einen verwandten milden Standpunkt vertreten die kirchenhistor. Arbeiten von Hagenbach und Ph. Schaff. Gegenüber dieser Geschichtsbetrachtung bereiteten Gieseler (s. d.) durch seine nüchterne, rein gelehrte Quellenforschung, Hase (s. d.) durch seine künstlerische, die mannigfaltigsten Erscheinungsformen des christl. Geistes mit ästhetischem Sinn auffassende Darstellung und Niedner (s. d.) durch seine denkende Durcharbeitung des Stoffs eine rein geschichtliche Behandlungsweise vor, deren Erfordernisse dann Ferd. Christian Baur (s. d.), wenn auch vielfach in Hegelscher Schulsprache, doch in scharfen und klaren Zügen vorführt. Gegenüber der subjektiv-religiösen Art der Neanderschen Methode fordert Baur die Anerkennung einer objektiven, in der Idee der Kirche selbst und deren geschichtlicher Verwirklichung begründeten Notwendigkeit des Geschehens. Die Grundsätze, deren Anwendung auf die K. er namentlich für die ersten drei Jahrhunderte in bahnbrechender Weise versuchte, sind dieselben, die für die außerkirchliche Geschichtschreibung überall zur Geltung gekommen sind. Im schärfsten Gegensatze zu der Baurschen Geschichtsbetrachtung haben Guericke, H. Schmid, Lindner, Kurtz und Kahnis den konfessionell luth. Standpunkt erneuert, Ebrard und Herzog vom kon-^[folgende Seite]

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